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PolitikEuropa

Desinformation als Waffe im Krieg gegen die Ukraine

23. Februar 2023

Falschbehauptungen über ukrainische Nazis, russische Kriegsverbrechen und westliche Sanktionen sind seit der Invasion Russlands in die Ukraine weit verbreitet. Wie und von wem wird Desinformation eingesetzt?

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Wladimir Putin höchstpersönlich sowie russische Ministerien und Botschaften verbreiten immer wieder Falschinformationen
Wladimir Putin höchstpersönlich sowie russische Ministerien und Botschaften verbreiten immer wieder Falschinformationen Bild: Mikhail Klimentyev/Pool Sputnik Kremlin/dpa

Das Kriegsgeschehen in der Ukraine wird seit zwölf Monaten von vielen breit angelegten Desinformationskampagnen begleitet, die immer ausgeklügelter werden und sich auf zahlreichen Wegen verbreiten. Dabei werden von den verschiedenen Akteuren wie den russischen staatlichen Medien, jungen Influencern und Bots immer wieder eine Reihe falscher oder irreführender Narrative verbreitet, die sowohl dem Publikum in Russland als auch den Nutzern im Westen ein alternatives Bild des Krieges in der Ukraine und dessen Folgen vermitteln sollen. Auch pro-ukrainische Falschmeldungen zum Krieg wurden von internationalen Faktencheckern verzeichnet. Um welche Narrative geht es und wie haben sich die Desinformationskampagnen in den letzten zwölf Monaten entwickelt?

Bereits im Vorfeld der russischen Invasion wurde von russischer Seite auf allen Ebenen - angefangen vom Staatsoberhaupt Wladimir Putin über die staatlichen Medien bis hin zu regierungsnahen Bloggern - die Falschbehauptung verbreitet, die den Angriff auf die Ukraine rechtfertigen sollte: Der Grund der Invasion sei die angebliche Provokation durch die NATO, die Russland bedrohe. Wie wirksam sich dieses Narrativ im Westen durchgesetzt hat, konnte die DW bereits in einem Faktencheck aufzeigen. Dabei wird immer wieder die klassische Propaganda-Technik angewendet, bei der Ursache und Wirkung umgedreht, die Opfer zu den Tätern gemacht und die Tatsachen vollkommen verdreht werden. 

Westliche Sanktionen und Lebensmittelknappheit 

Dieses Prinzip kann man nach Ansicht der Experten gut im Zusammenhang mit den EU- und US-Sanktionen gegen Russland sehen. "Die Sanktionen, die Reaktion, werden als das eigentliche Problem dargestellt und der Westen wird als Auslöser dieser Lebensmittelknappheit dargestellt, welche existiert", erklärt Lutz Güllner, der Referatsleiter für Strategische Kommunikation im Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD).  

Beim Thema Lebensmittelknappheit wird in den russischen sozialen Medien die Verantwortung dem "kollektiven Westen" zugeschrieben. Sie wird angeblich nicht durch den Krieg verursacht, sondern stattdessen hindertendie westlichen Sanktionen Russland als größten Weizenexporteur der Welt daran, andere Länder mit Getreide zu versorgen. Solche Behauptungen entsprechen den Erklärungen des russischen Außenministeriums, das die "einseitigen antirussischen Einschränkungen" und den "erklärten totalen Handelskrieg der EU" als Ursache nennt. Das ist aber falsch.  

Es gibt keine Sanktionen der EU gegen russische Nahrungsmittelausfuhren auf dem Weltmarkt. "Nahrungsmittelexporte aus Russland sind nicht sanktioniert", bestätigte auch Martin Rentsch, der Sprecher des Welternährunsgprogramms, gegenüber der DW. Und auch die Vereinigung in Russland ansässiger Getreideexporteure, Rusgrain Union, bekräftigte dies: "Wir betonen, dass Sanktionen und Exportkontrollen gegen Russland nicht essentielle Nahrungsmittelexporte und landwirtschaftliche Produkte für Entwicklungsländer betreffen oder betreffen werden."  

Ukraine | Krieg | Odessa | Getreideverschiffung
Fakt ist: Der ukrainische Weizenexport brach laut Europäischem Rat um bis zu 90 Prozent ein - vor allem, aufgrund der russischen Seeblockade, die Getreideverfrachtung wie unmöglich machte - wie hier in Odessa.Bild: Kostiantyn Liberov/AP Photo/picture alliance

Die Mär von der Naziherrschaft und angebliche Inszenierung der Kriegsverbrechen  

Ein Propaganda-Narrativ, das sich überhaupt nicht durchsetzen konnte, meint Lutz Güllner, sei "die Mär von der sogenannten Naziherrschaft in der Ukraine". Dabei gehört es nach Einschätzungen von Madeline Roache von NewsGuard auch noch ein Jahr nach der Invasion zu den am meisten verbreiteten Narrativen - zuletzt während der Fußball-WM in Katar verbreiteten angeblich drei betrunkene Ukrainer Nazi-Symbole. Die frei erfundene Behauptung wurde in Form eines Fake-Videos des arabischen Nachrichtensenders Al Jazeera verbreitet.

Besonders oft wurde der ukrainische Präsident zur Zielscheibe der Desinformation: Ausgerechnet der Jude Wolodymyr Selenskyj wird als ein Nazi, Lügner und Kriegstreiber dargestellt und sogar mit Hitler verglichen.  

Auf die Frage, was sie in den vergangenen zwölf Monaten des Krieges am meisten erschütterte, gaben die von der DW befragten Experten alle die gleiche Antwort: Die Versuche, das Massaker von Butscha der ukrainischen Seite zuzuschreiben, obwohl mehrere Quellen wie Berichte der Augenzeugen vor Ort, Aufnahmen von Überwachungskameras und Satellitenbilder eindeutig die Kriegsverbrechen durch die russische Armee nachweisen. "Es war schockierend, dass die ganz klaren Belege, die von Journalistinnen und Journalisten vor Ort geliefert wurden, so dreist geleugnet wurden", so Julia Smirnova, leitende Analystin des Institute for Strategic Dialogue (ISD), die auch die Verbreitung der Desinformation in diesem Krieg untersucht.

Den Vorwurf, die Ukrainer würden das Kriegsgeschehen und die zivilen Opfer der russischen Angriffe und der russischen Besatzung inszenieren, nutzt Russland seitdem immer wieder. Neben offiziellen Aussagen der politischen Führung des Landes, verwendet Russland für die Verbreitung dieses Narratives auch diplomatische Accounts, zum Beispiel die der russischen Botschaften in diversen Ländern, erklärt Lutz Güllner vom EAD.  

Ukraine Krieg | Raketeneinschlag in Dnipro
Die klassische Technik der Täter-Opfer-Umkehr wurde von der russischen Propaganda zuletzt beim russischen Raketenschlag auf ein Hochhaus in Dnipro angewendetBild: Evgeniy Maloletka/AP/picture alliance

Zuletzt gab der Kremlsprecher Dmitri Peskow der Ukraine die Schuld für den Raketen-Einschlag in einem Wohnhaus in Dnipro, bei dem 45 Menschen getötet wurden: "Russlands Streitkräfte greifen keine Wohngebäude oder Objekte der sozialen Infrastruktur an", so Peskow. Er behauptet, die ukrainische Luftabwehr habe die Zerstörung von über 200 Wohnungen in dem Haus verursacht. Und Nutzer in den sozialen Medien gehen noch weiter und behaupten: "Das hat Selenskyj gemacht, nur um mehr Waffen und Luftabwehrsysteme vom Westen zu bekommen".  

Nach offiziellen Angaben der ukrainischen Seite handelte es sich bei dem Angriff um eine russische Rakete des Typs Kh-22 (auch als X-22 und AS-4 KITCHEN bezeichnet). Auch der Geheimdienst des britischen Verteidigungsministeriums bestätigte, dass das Wohnhaus in Dnipro "höchstwahrscheinlich" von einer AS-4 KITCHEN zerstört wurde.  

"Erfolge" auf dem Schlachtfeld  

Einen großen Narrativblock bilden auch die Falschmeldungen über "Erfolge" und "Niederlagen" der beiden Kriegsparteien. Das trifft laut Madeline Roache von NewsGuard auch auf die ukrainische Seite zu, es seien allerdings viel weniger "im Vergleich zu den Behauptungen, die wir von der russischen Regierung gesehen haben. Natürlich neigten die pro-ukrainischen Behauptungen, die wir sahen, dazu, den Erfolg der ukrainischen Armee zu übertreiben".  

Ein bekanntes Beispiel stammt vom Anfang des Kriegs: Der Mythos vom sogenannten Geist von Kiew hat viele Ukrainer in den ersten Wochen nach der Invasion begeistert. Hier ging es um einen Kampfpiloten, der im Alleingang knapp 40 russische Flugzeuge vernichtet haben soll. Angebliche Videos und Bilder, die ihn zeigen sollten, gingen viral. Den Geist von Kiew hat es aber nach DW-Recherchen nie gegeben. Letztendlich erklärte auch die Leitung der Luftstreitkräfte der Ukraine, dass es sich beim "Geist von Kiew" um "eine Legende handelt, die von den Ukrainern erschaffen wurde".  

Das jüngste Beispiel von russischer Seite gab es im Januar 2023, als der offizielle Vertreter des russischen Verteidigungsministeriums behauptete, Russland wäre es gelungen, mit einem massiven Raketenangriff über 600 ukrainische Soldaten in Wohnheimen in Kramatorsk getötet zu haben. Doch noch am Tag der Erklärung haben internationale Reporter vor Ort festgestellt, dass es weder zerstörte Wohnheime noch Belege der Unterbringung ukrainischer Soldaten in den genannten Gebäuden in Kramatorsk gab.  

Was die Todeszahlen angeht, liefern weder Russland noch die Ukraine glaubwürdige Zahlen. Offizielle Stellen der Ukraine nennen in einigen Fällen deutlich höhere Zahlen an getöteten russischen Soldaten als etwa die US-Regierung und die UN - womöglich nicht ohne Hintergedanken. Die tatsächlichen Opferzahlen sind im Krieg häufig schwer zu ermitteln, weil sie von beiden Seiten für Propagandazwecke missbraucht werden. Während die Ukraine von 145.000 toten russischen Soldaten spricht, hat Russland die Zahl der Gefallenen zuletzt im September mit 5937 Personen angegeben.

Diskreditierung westlicher Medien  

Zwar sind viele prorussische oder kremlfreundliche Narrative nicht neu, deren Ausspielwege und die Aufbereitung haben sich jedoch in den Monaten nach der Invasion verändert und vervielfältigt - nicht zuletzt als Folge der Blockierung der russischen Staatsmedien wie RT und Sputnik in den EU-Staaten.

Neben gefälschten Dokumenten und falschen "Faktencheck"-Webseiten nennt Madeline Roache eine weitere neue Art, die Falschmeldungen zu verbreiten. Immer öfter erscheinen im Netz fabrizierte Videos und Nachrichtenberichte mit Desinformationen unter den Logos von internationalen Medien wie BBC, CNN, Al Jazeera und auch der DW. "Ich denke, diese sind besonders beunruhigend, weil sie oft ziemlich überzeugend aussehen und nicht nur Desinformationen verbreiten, sondern auch das Risiko bergen, dass das Vertrauen in diese Nachrichtenorganisationen untergraben wird und sie nur allgemeine Verwirrung darüber stiften, was wahr ist und was nicht", so Roache.  

Ein gefälschtes Video, angeblich von der DW, wurde für die Verbreitung der Desinformation über ukrainische Flüchtlinge verwendet
Ein gefälschtes Video, angeblich von der DW, wurde für die Verbreitung der Desinformation über ukrainische Flüchtlinge verwendet

Diese Masche lässt sich mit einem weiteren großen pro-russischen Narrativ verknüpfen: Der Dämonisierung ukrainischer Geflüchteter, wie ein weiterer DW-Faktencheck zeigt. So wurde beispielsweise in den Sozialen Medien ein angeblich von der Deutschen Welle produziertes Video verbreitet, das über einen angeblichen kriminellen Flüchtling aus der Ukraine berichtete und sich in Wirklichkeit als ein ziemlich professionell produziertes Fake entpuppte.

"Tatsächlich werden in Russland, aber auch im Ausland, Informations- und Propagandakampagnen immer wieder an private Akteure ausgelagert", erklärt Julia Smirnova, die Analystin vom ISD. "Seien es Trollfabriken oder PR-Agenturen oder Influencer und Influencerinnen bei TikTok und anderen Social Media Plattformen, die dann angesprochen werden und die auch diese Propaganda-Narrative in ihren eigenen Blogs verbreiten, ohne das kenntlich zu machen".  

Egal ob durchschaubar, wie im Fall der staatlichen Akteure oder sehr professionell und fein gestrickt, die langfristige Wirkung der Desinformationen sollte man nicht unterschätzen. "Das russische Desinformation-Ökosystem probiert ja auch immer wieder mit vielen unterschiedlichen Narrativen zum gleichen Thema zu verwirren, so dass am Ende die Konsumenten oder diejenigen, die das erreichen soll, so viele unterschiedliche Versionen von einer Tatsache oder von einem Problemfeld bekommen haben, dass sie beginnen, überhaupt keiner Quelle mehr zu glauben. Und dieses Unterminieren, dieses Zersetzen des Vertrauens in die Berichterstattung ist ganz, ganz wichtig", warnt Lutz Güllner von EAD. Denn je öfter etwas wiederholt wird, desto eher setzte es sich in den Köpfen der Menschen fest. Und dies bleibe nach wie vor eine der wichtigsten Strategien, die von Desinformationsakteuren benutzt werden.