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Ukraine: Deutscher Rechentrick und die zwei Prozent der NATO

19. Januar 2024

Berlin will der Ukraine weitere acht Milliarden Euro Militärhilfe geben. Jetzt ist der Betrag Teil des selbstgesteckten NATO-Ziels für Rüstungsausgaben.

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Das Foto zeigt zwei F-35-Jets von US-Hersteller Lockheed-Martin geparkt bei der Luft- und Raumfhartausstellung ILA in Berlin im Jahr 2018
F-35-Tarnkappen-Jets vom US-Hersteller Lockheed-Martin: Eine Bestellung über 35 Flugzeuge war 2022 eine der ersten aus Mitteln des 100-Milliarden-Euro-Sondervermögens der BundeswehrBild: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild

Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius ist jetzt ein Jahr im Amt: Der Mann, der die deutschen Streitkräfte modernisieren soll, ist der beliebteste Minister in der nach Umfragen höchst unbeliebten Regierung von Bundeskanzler Olaf Scholz.

Doch die finanziellen Planungen für diese "Zeitenwende" genannte Großreform der deutschen Bundeswehr wurden kurz vor dem Dienstjubiläum von Pistorius schon wieder mächtig gerupft. Im Bundeshaushalt für das Jahr 2024 erreicht die Koalitionsregierung aus den Parteien SPD (Sozialdemokraten) von Verteidigungsminister Pistorius, ökologischen Grünen und der liberalen FDP das sogenannte Zwei-Prozent-Ziel der NATO nur mit viel Buchungsakrobatik, kritisiert vor allem die Oppositionspartei CDU.

Das Foto zeigt den deutschen Verteidigungsminister Boris Pistorius (li. im Bild) im Gespräch mit Bundeskanzler Olaf Scholz am Rande einer Kabinettssitzung in Berlin. Im Hintergrund ist die Wand des Kabinettssaals im Bundeskanzleramt zu sehen, im Vordergrund verschwimmen Lichtreflexe
Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius (li. im Bild) im Gespräch mit Bundeskanzler Olaf ScholzBild: MICHELE TANTUSSI/AFP

Die NATO-Staaten verpflichten sich selbst, jedes Jahr zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für die Streitkräfte auszugeben. Nach dem Beginn von Russlands Großinvasion in der Ukraine am 24. Februar 2022 hatte Bundeskanzler Scholz den Partnern in Europa und Amerika versprochen, Deutschland werde dieses Ziel künftig einhalten.

Waffen für Ukraine bezahlt aus dem Sondervermögen "Zeitenwende"

Eigentlich sollte die Bundeswehr über zusätzlich 100 Milliarden Euro für ihre Modernisierung verfügen. Aus diesem Sondervermögen, einem vom deutschen Parlament, dem Bundestag, genehmigten Zusatzbudget, soll vor allem modernes Kriegsgerät gekauft werden. Doch jetzt werden auch die Hilfen für die Ukraine aus diesem Budget bezahlt. Insgesamt acht Milliarden will Deutschland für Waffen für die Ukraine ab diesem Jahr ausgeben.

Portraitfoto des CDU-Bundestagsabgeordneten Roderich Kiesewetter mit weißem Hemd und schwarzem Mantel
CDU-Politiker Kiesewetter: Der Bundestagsabgeordnete wirft Kanzler Scholz Rechentricks im Verteidigungsbudget vor Bild: Bernd Elmenthaler/IMAGO

Die größte Oppositionspartei im Bundestag kritisiert das scharf: "Das Sondervermögen wird, anders als es im Grundgesetz festgelegt war, eben für den laufenden Betrieb und die laufende Unterstützung verwendet und nicht für den Neubau der Bundeswehr", sagt der Außen- und Sicherheitspolitiker Roderich Kiesewetter von der konservativen Partei CDU im Interview mit der DW. "Es ist tatsächlich ein System von Intransparenz, ein System, das den Anschein vermitteln will, man erreiche doch noch zwei Prozent", so Kiesewetter.

Ukraine-Hilfen: "Zahlen sind geschönt"

Kiesewetter kritisiert auch die Berechnung der Ukraine-Hilfen der deutschen Regierung. "Die Zahlen sind geschönt", sagt der frühere Oberst der Bundeswehr. "Tatsächlich mussten wir schauen: Was ist alles geliefert worden? Und das, was geliefert worden ist, liegt zwischen vier und fünf Milliarden Euro" - in den vergangenen zwei Jahren. "Für dieses Jahr sind weitere acht Milliarden Euro angekündigt, aber nicht geliefert, und es wäre sehr ehrlich und hilfreich, wenn die Bundesregierung das veröffentlicht, was geliefert ist und nicht, was angekündigt wird."

Auf dem Foto stehen im Berliner Hauptbahnhof mehrere Dutzend ukrainische Flüchtlinge für Hilfen an. Freiwillige Helferinnen und Helfer mit Leuchtwesten bekleidet beugen sich über notdürftig aufgestellte Tische und versorgen die Menschen
Ukraine-Flüchtlinge im März 2022 am Berliner Hauptbahnhof: Deutschland rechnet die finanzielle Unterstützung für die Geflüchteten in seine Ukraine-Hilfe mit ein Bild: Jens Krick/Flashpic/dpa/picture alliance

International hat Deutschland mehr als 17 Milliarden Euro Ukraine-Hilfen gemeldet, zum Beispiel an die EU. In dem Betrag aber sei auch die soziale Unterstützung der mehr als eine Million ukrainischer Flüchtlinge in Deutschland mit einberechnet, kritisiert der CDU-Abgeordnete Kiesewetter.

Die Bundesregierung beruft sich auf Zahlen des Instituts für Weltwirtschaft Kiel (IFW), das die internationalen Ukraine-Hilfen mehrmals im Jahr im sogenannten "Ukraine Support Tracker" aufführt. Dahinter verbergen sich lange Tabellenreihen, in denen zum Beispiel der Wert der an die Ukraine gelieferten Rüstungsgüter wie dem Leopard-Panzer aus Beständen der Bundeswehr buchhalterisch bewertet wird. 

Kritik aus Frankreich am deutschen "Ukraine Support Tracker"

Die französische Regierung kritisiert die deutschen Berechnungen allerdings: Paris hätte demnach weniger als eine Milliarde Euro an Hilfen an die Ukraine in den vergangenen zwei Jahren gegeben. Damit läge Frankreich gerade mal auf Platz 13 der Ukraine-Unterstützer; auf Platz eins liegt demnach die EU, gefolgt von den USA, Deutschland und Großbritannien.

"Ich bin mit dieser Einstufung nicht einverstanden, insbesondere nicht mit der aus Kiel", sagte der französische Verteidigungsminister Sébastien Lecornu zuletzt im nationalen Rundfunk "France Inter". 

Die Atommacht Frankreich hält traditionell Daten ihrer Rüstungsindustrie unter Verschluss. In Berliner Sicherheitskreisen heißt es allerdings, die französische Regierung habe sogar das Gespräch mit den IFW-Forschern gesucht und ihre Zahlenkolonnen dabei angezweifelt. Das IFW wollte sich nach DW-Anfrage dazu nicht äußern.

74 neue CAESAR-Haubitzen aus Frankreich

Die Kritik an Deutschland in Verbindung mit der Unterstützung für die Ukraine ist für Pariser Verhältnisse deutlich. "Frankreich ist stolz darauf, dass alles, was versprochen wird, tatsächlich geliefert wird, und alles, was geliefert wird, funktioniert", sagte der französische Verteidigungsminister im selben Interview kurz nach seiner Rückkehr von einem Besuch in der ukrainischen Hauptstadt Kiew.

Dort war bekannt geworden, dass die Ukraine kaum noch einen der von Deutschland gelieferten Leopard-2-Panzern einsetzen kann, weil sie gewartet werden müssen. Lecornu gab zudem bekannt, dass Frankreich in diesem Jahr 78 weitere CAESAR-Artilleriegeschütze für die Ukraine bauen und ausliefern werde. 

Das Foto zeigt vier ukrainische Soldaten stehend auf dem hinteren Teil eines französischen Artilleriegeschützes der Klasse CAESAR. Die Kanone zeigt steil in den Himmel
Ukrainische Soldaten auf einem selbstfahrenden französischen CAESAR-Artilleriegeschütz Bild: IMAGO/Cover-Images

Der deutsche Regierungskritiker Roderich Kiesewetter von der CDU sieht zudem die Regierung Scholz und Verteidigungsminister Pistorius bei der Produktion der 155-Millimeter-Geschosse für die ukrainische Artillerie in der Verantwortung. "Die Rüstungsindustrie sagt zum Beispiel, dass sie in diesem Jahr 400.000 Artilleriegranaten produzieren könnten", so Kiesewetter gegenüber der DW. "Aber mit Blick auf Ausschreibungen, Verträge, Vertragsrecht hat es keine Entbürokratisierung gegeben, so dass es nicht zum Tragen kommt."

Berechnungstricks beim NATO-Ziel gab es früher schon

Deutschland stelle der Industrie zu wenige Abnahmegarantien aus, kritisieren Sicherheitsexperten wie Nico Lange von der Münchner Sicherheitskonferenz. Zudem sei die Beschaffungsbürokratie der Bundeswehr auch in zwei Jahren "Zeitenwende" nicht reformiert worden. "Da reicht das Tempo einfach nicht aus, und die Chance wäre ja gewesen zu sagen, jetzt ist Zeitenwende, wir haben mehr Geld, wir haben ein Sondervermögen, und jetzt machen wir die Dinge mal anders."

Ukraine-Krieg: "Wir brauchen Luftüberlegenheit"

Vor allem bei der Berechnung, ob Deutschland das Zwei-Prozent-Ziel für die NATO erreicht, hat sich ganz offensichtlich nichts geändert.

Auch frühere Regierungen seien hier schon sehr kreativ gewesen, sagt Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) im Gespräch mit der DW. Mölling hatte in einer Analyse zuletzt darauf hingewiesen, dass der NATO im schlechtesten Falle nur fünf Jahre bleiben, um so aufzurüsten, dass Russland von einem Angriff auf NATO-Gebiet, vor allem im Baltikum, abgeschreckt werden könne. Dass die Bundesregierung jetzt die Ukraine-Hilfen in ihr NATO-Ziel mit einberechne, "kann auch legitim sein", so Mölling. Schließlich verteidige die ukrainische Armee indirekt auch die NATO gegen den Angreifer Russland.