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Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

16. August 2003

Reformdebatte / Deutsch-amerikanische Versöhnung / Stasi-Vergangenheitsbewältigung

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Das Interesse der europäischen Presse richtete sich in dieser Woche wieder einmal auf die wirtschaftliche Lage Deutschlands und die Reformbemühungen der Bundeskanzlers. Ein weiteres Thema war die sich abzeichnende Entspannung zwischen Washington und Berlin.

Die in London erscheinende TIMES kommentierte die jüngsten negativen Wirtschaftsdaten, sah aber trotz sinkenden Bruttoinlandsprodukts einen Schimmer der Hoffnung, Zitat:

"Die Deutschen haben im Prinzip zur Kenntnis genommen, dass Veränderungen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik notwendig sind. Der Streit geht nur noch darum, wie tiefgreifend diese Reformen sein müssen. Inmitten der düsteren Stimmung gibt es aber Anzeichen dafür, dass sich die Dinge zu ändern beginnen. Die Entscheidung der IG Metall, in Ostdeutschland geplante Arbeitsniederlegungen abzublasen, kommt einer historischen Niederlage gleich. Dies könnte der Beginn der Auflösung des Nachkriegspaktes einleiten, wonach die großen Gewerkschaften Löhne für ganze Industriezweige festlegen. Aber dies ist erst der Anfang. Ein gelähmtes Deutschland bedeutet eine kränkelnde Eurozone. Von Bundeskanzler Gerhard Schröder sind Entschlossenheit und Durchhaltevermögen gefordert."

Als 'kühnen Ritter' auf dem Feld der Reformbemühungen beschrieb die französische Tageszeitung LE FIGARO den Kanzler und meinte:

"Zum einen geht es um den Versuch, die deutsche Wirtschaft wachzurütteln, die seit Monaten vor sich hin döst. Zum anderen muss die SPD, die in den Umfragen weit hinter der CDU liegt, wieder in Schwung gebracht werden. Das heißt auch, dass damit bereits die Kampagne für die Bundestagswahlen 2006 vor ihrem Start steht. Schröder hat alles in allem nichts zu verlieren. Wenn er sich nicht von der Stelle rührt, ist eine Niederlage bei den nächsten Wahlen wahrscheinlich. Geht er aber auf die zahlreichen Widerstände nicht ein, und gelingt es ihm, die Wirtschaft wieder anzukurbeln, dann wird ihm jeder einen Lorbeerkranz flechten."

Die französische Wirtschaftszeitung LA TRIBUNE würdigte die Reformanstrengungen der deutschen Regierung so:

"Bundeskanzler Gerhard Schröder ist auf dem besten Weg, unserem Premierminister Jean-Pierre Raffarin eine Lehre zu erteilen, indem er die Strukturreformen beschleunigt. Frankreich und Deutschland, diese wichtigsten Volkswirtschaften Europas, sind in der Tat beide in einer wirtschaftlichen Flaute, und das auf Kosten der gesamten Euro-Zone. Der politische Wille, beidseits des Rheins Abhilfe zu schaffen, weist indessen nicht mehr dieselbe Intensität auf. Während es bei Raffarin so aussieht, als wolle er wesentliche Reformen vor sich herschieben, kommt der Bundeskanzler in seinem Kalender in raschem Tempo voran."

Die in Straßburg erscheinenden DERNIÉRES NOUVELLES D'ALSACE stellten bewundernd fest:

"Vor einem Jahr, mitten im August, ging Ostdeutschland im Wasser der Jahrhundertflut unter. Dies war für Gerhard Schröder der Momemt des wunderbaren Wiederaufstiegs. Mit seinen Talenten als 'Krisenmanager' drehte der Kanzler eine offensichtlich verlorene Lage und gewann knapp die Bundestagswahl im September. (...) Heute muss man feststellen, dass Schröder einen überraschenden zweiten Wiederaufstieg geschafft hat. Er hat die dornige Gesundheitsreform unter Dach und Fach gebracht, mit der Hilfe der Opposition. Er hat entschieden, die Steuerreform um ein Jahr vorzuziehen - und damit 15 Milliarden Euro für die Verbraucher freizumachen. Nun greift er die Reform des Arbeitslosengeldes an (...). Dieser Reform-Elan, selbst wenn er erst am Anfang steht und einige darin vor allem oberflächlichen Aktionismus sehen, beginnt Früchte zu tragen."

Die Mailänder Zeitung CORRIERE DELLA SERA zog folgendes Resümee:

"Die Rezepte, mit denen Bundeskanzler Schröder die Steuerausfälle finanzieren will, zeigen, dass wir alle in Europa mehr oder minder, in der gleichen Lage sind. Wir haben stagnierende Wirtschaften und sind uns nicht sicher, ob wir auf einen neuen Anstoß durch die amerikanische Lokomotive hoffen können. Um Wirtschaftswachstum zu bekommen, sind überall die gleichen Rezepte nötig: Die öffentlichen Ausgaben müssen gesenkt werden, indem man auch die ehrenvollsten Meilensteine des Wohlfahrtsstaates zurückfährt, die Renten und die Gesundheitsversorgung sowie die Sozialbeihilfen."

Mit den deutsch-amerikanischen Beziehungen beschäftigete sich die russische Tageszeitung NESAWISSIMAJA GASETA:

"Präsident Bush lobt Kanzler Schröder für die Unterstützung der amerikanischen Bemühungen in Afghanistan. (...) Die Deutschen fassen dies (...) als Signal für bessere Beziehungen zwischen beiden Ländern auf. Es wächst die Hoffnung in Berlin, dass man 'über Afghanistan' den Weg zu einem Treffen Schröders mit Bush beschreiten kann. Denn auf diesen Gipfel warten die Deutschen schon lange."

Die römische Zeitung LA REPUBBLICA meinte:

"Das rot-grüne Deutschland und das Amerika des George Bush bewegen sich beide in Richtung Tauwetter. Der rasche Austausch von Freundlichkeiten signalisiert den wachsenden Willen, die schwerste bilaterale diplomatische Krise der Nachkriegszeit zu beenden. Ein Spitzentreffen der beiden Politiker Schröder und Bush Ende September in New York scheint sehr wahrscheinlich. (...) Tauwetter mit Bush wäre für Schröder ein wichtiger Erfolg auch auf innenpolitischer Ebene, in der Auseinandersetzung mit der Opposition und in den Beziehungen zu den Machtzentren in der Wirtschaft und in der Finanzwelt, die ihn zur Eile drängen."

Das Schweizer Blatt TAGESANZEIGER sah eine Chance für ganz Europa, Zitat:

"Die zarten Annäherungsversuche zwischen Berlin und Washington sind weit mehr als Geplänkel: Sie markieren eine Chance für alle Europäer und die USA, Bewegung in das festgefahrene transatlantische Verhältnis zu bringen. Das erfordert ein Umdenken auf beiden Seiten. Die USA können auf Hilfe nur dann zählen, wenn sie nicht weiter arrogant an der UNO vorbeiagieren. Und die 'alten' Europäer werden nur dann eine gewichtigere weltpolitische Rolle spielen, wenn sie aus dem Schmollwinkel herauskommen und Verantwortung übernehmen - für den Wiederaufbau nach einem Krieg, den sie nicht gewollt haben."

Die österreichische Zeitung DER STANDARD sah es so:

"Es zeichnet sich ein Tauschgeschäft ab: Die Deutschen schicken mehr Bundeswehrangehörige nach Afghanistan, dafür können die Amerikaner Soldaten aus diesem Land abziehen und sich auf den Irak konzentrieren. Die Lage im Irak hat sich seit dem offiziell verkündeten Ende der Hauptkampfhandlungen der in Afghanistan extrem angenähert, hier wie dort geht es um die Stabilisierung und Demokratisierung des Landes. Die rot-grüne Regierung in Berlin kann deshalb gar nicht anders als die Bemühungen der USA, genau das im Irak zu erreichen, worum sich die deutschen Soldaten in Afghanistan bemühen, anzuerkennen. Sie kann damit nicht gegen die Entsendung weiterer Truppen sein. Dieses Dilemma versucht Bush auszunutzen."

Zum Schluss ein Kommentar der dänischen Tageszeitung INFORMATION, die anlässlich angeblich neuer Stasi-Vorwürfe gegen den Kölner Publizisten Günter Wallraff auf das Problem der Stasiunterlagen-Behörde eingeht:

"Wie auch immer die Sache um Günter Wallraff ausgeht: Es ist an der Zeit, sich der weiter strömenden Stasi-Enthüllungen prinzipiell anzunehmen. 13 Jahre nach der Wiedervereinigung nehmen sie nach wie vor kein Ende, obwohl sie rein juristisch bedeutungslos geworden sind. Die weitaus meisten Gesetzesbrüche, die informelle Mitarbeiter (IM) der Stasi begangen haben, können nicht mehr bestraft werden. Aber eine Strafe gibt es dennoch. Ohne Rücksicht darauf, worin die Stasi-Sünde eigentlich bestanden hat, ist schon der IM-Stempel in der persönlichen Biografie genug. Der Träger wird von der Gesellschaft als Leprakranker, Verbrecher oder Menschenverächter eingestuft. Es kann aber nicht der Sinn von Gerechtigkeit sein, dass Gesinnungs-Vergehen mit lebenslanger Ausstoßung bestraft werden, während die Gesellschaft sonst versucht, verurteilten Gesetzesbrechern nach Verbüßung ihrer Strafe zu verzeihen. Es ist wohl an der Zeit, das Stasi-Archiv für einige Jahre zu schließen."