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Vom "Reichstag-Blue" zum "Merkel Blue"

Christine Lehnen
7. Dezember 2021

Im Bundestag wurde die neue Regierung vereidigt, sitzen wird sie auf blauen Stühlen. Was uns das "Reichstag-Blue", Merkels Blazer und Annalena Baerbocks Hosenanzug über die Politik verraten.

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Deutschland Plenarsaal des Bundestages wird umgebaut
Bei jedem Regierungswechsel werden auch die Sitze im Deutschen Bundestag neu montiert (Archivbild)Bild: picture-alliance/dpa/K. Nietfeld

Als Olaf Scholz am Mittwoch (8. Dezember 2021) in Berlin zum neuen Kanzler gewählt wurde, hat er auf einem ganz besonderen Stuhl Platz genommen: Er heißt Figura, hat die höchste Rückenlehne, und ist strahlend blau, mit einem leichten Einschlag ins Violette. Ein Farbton, der sogar markenrechtlich geschützt ist - als "Reichstag Blue". Mit dieser Farbe sind alle Stühle im Bundestag bezogen.

Dabei wäre fast alles anders gekommen. Eigentlich sollten die Stühle im neuen Bundestag in Berlin grau werden. So wollte es zumindest der renommierte britische Architekt Norman Foster, der nach der Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland im Jahr 1990 mit der Umgestaltung des Reichstagsgebäudes in Berlin beauftragt worden war. Von 1993 bis 1999 dauerten die Arbeiten am Gebäude.

Gut gelaunte Angela Merkel bei ihrer letzten Befragung der Bundesregierung
Gutgelaunte Angela Merkel bei ihrer letzten Befragung im Bundestag - im blauen BlazerBild: Jens Krick/Flashpic/picture alliance

Hellgrau wählte der aus Manchester stammende Architekt, der sich in einem Wettbewerb gegen die Kollegen Santiago Calatrava und Pi de Bruijn durchsetzte, als grundlegende Farbe des neuen Plenarsaals. Auch die Stühle sollten grau werden, so der Wunsch Fosters.

"Graue Männer mit grauen Haaren auf grauen Sesseln - ein Grauen!"

Dagegen stemmten sich aber die Politikerinnen und Politiker im Bundestag. Peter Conradi von der SPD witzelte damals laut "Tagesspiegel": "Graue Männer mit grauen Haaren in grauen Anzügen auf grauen Sesseln vor grauen Tischen auf grauem Teppich und rundherum graue Wände - wen packt da nicht das Grauen?" Deshalb wurde der dänische Designer Per Arnoldi von Foster damit beauftragt, einen anderen Farbton zu finden. Heraus kam das "Reichstag-Blue" - das sich der vormals so grau-verliebte Foster prompt markenrechtlich schützen ließ.

Blau wurde auch gewählt, weil es damals eine neutrale politische Farbe war. Keine der Parteien, die damals im Bundestag saßen, reklamierte es für sich. Das änderte sich erst im Jahr 2017 mit dem Einzug der rechtspopulistischen Partei AfD in den deutschen Bundestag. Ihr Blauton ist jedoch wesentlich heller als das "Reichstag-Blue".

"Das Reichtag-Blue ist eine gut gewählte Farbe. Dadurch kann eine unaufgeregte Atmosphäre im Bundestag entstehen", erläutert Farb-Expertin Silvia Prehn im Gespräch mit der DW. "Es ist eine ruhige Farbe, die Klarheit und Sachlichkeit vermittelt. Blau wirkt körperlich beruhigend, Puls und Atem verlangsamen sich, es entspannt und besänftigt."

Blau sei auch die Lieblingsfarbe der Deutschen, so Prehn. "38 Prozent favorisieren sie. Kein Wunder, denn Blau ist auch eine Schutzfarbe: Wenn man es trägt, macht man sich unangreifbar. Blau hat eine große Seriosität, bietet dazu noch Klarheit und Harmonie."

Auch die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel trug immer wieder blau - besonders häufig auf Auslandsreisen, wie dem US-amerikanischen "Forbes"-Magazin auffiel. Stephan Rabimov schrieb in einem Beitrag aus dem Jahr 2020: "Viele erinnern sich noch an das Foto vom G7-Gifpel in den Bayerischen Alpen, das inzwischen zur Ikone geworden ist: eine Reihe von dunklen Anzügen, und mittendrin ein himmelblauer Blazer." Im Artikel spricht Rabimov sogar von einem "Merkel Blue".

Wer setzt die Tradition des "Merkel Blue" fort?

"Es ist nicht verwunderlich, wenn sich Angela Merkel die Farbe Blau auch auf Auslandsreisen zunutze machen wollte", kommentiert Silvia Prehn für die DW. "Es ist eine logische, klare Farbe, die schützt und Vertrauen weckt." Mit all diesen Assoziationen stehe die Farbe auch für das moderne Deutschland, so Prehn - also sozusagen ein "German Blue" und wie es in der Welt wahrgenommen werden will.

Dank ihrer Blazer wurde Angela Merkel im Laufe ihrer Amtszeit zu einer Art Mode-Ikone. In seinem Artikel für das "Forbes"-Magazin nennt Rabimov sie augenzwinkernd eine "bona fide globale Style-Influencerin" mit "1,5 Millionen Followern auf Instagram" und einem "tadellosen internationalen politischen Ruf".

Joe Biden und Angela Merkel sitzen sich an einem Tisch gegenüber und lächeln sich an. Topfpflanzen stehen auf dem Tisch
Auch bei ihrem letzten G7-Gipfel in Blau: Bundeskanzlerin Angela Merkel, hier im Gespräch mit US-Präsident Joe BidenBild: Adam Schultz/White House/Planet Pix/Zuma/picture alliance

Wird Olaf Scholz als neuer Kanzler diese Tradition fortsetzen? "Olaf Scholz trägt vor allem dunkelblau. Je dunkler das Blau, desto feierlicher, seriöser, ernster und aufrichtiger wirkt es", so Silvia Prehn. "Es erweckt eben diese Gefühle von Vertrauen, Beständigkeit und Wahrheit."

Die neue Außenministerin Annalena Baerbock hingegen käme eher als Erbin des "German Blue" infrage: "Erst gestern hat sie genau den gleichen Farbton getragen wie die Stühle im Reichstag, also Aquamarin mit einem Violett-Einstich", sagt die Farb-Expertin, die Psychologie in Köln studierte und auch als Künstlerin tätig ist. "Sie will ernst genommen werden."

Christian Lindner, Olaf Scholz, Annalena Baerbock und Robert Habeck stehen nebeneinander und schauen in eine Kamera
Bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags trugen Christian Lindner (neuer Finanzminister, l.) und Olaf Scholz dunkelblaue Anzüge - und Annalena Baerbock, die neue Außenministerin, einen Hosenanzug im Farbton "Reichstag-Blue"Bild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Ob deutsche Spitzenpolitikerinnen und Politiker in der neuen Regierung das Blau wieder aufgreifen oder nicht: Im Bundestag werden die Sitze weiterhin in "Reichstag-Blue" strahlen, diesem satten blauen Farbton mit einem Stich ins Violette. "Das Blaue steht für die Denker, Analytiker, die Menschen mit den Daten, Zahlen und Fakten", so Prehn. "Violett hingegen steht fürs Visionäre, das Voraussehende und Vorausschauende." Das helle Grau im Plenarsaal sei dazu der perfekte Begleiter, führt die Farb-Expertin aus. "Es ist diskret, anpassungsfähig, steht für und ermutigt zur Kompromissbereitschaft."

Vielleicht ist diese Farbgebung auch ein Grund dafür, warum es im Bundestag - zumindest aus dem Ausland betrachtet - vergleichsweise höflich zugeht. "Gerade im Plenarsaal, wo so viele hitzige Debatten stattfinden, kann das Blau Menschen besänftigen, damit ruhigere, weniger emotional aufgebrachte Diskussionen stattfinden können", bestätigt Silvia Prehn. "Das ist eine wunderbare Farbgebung. Schlimm wäre es, wenn alles rot wäre."

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Am 30.12. wurde dieser Artikel korrigiert: In einer früheren Version hieß es, das Reichstags-Blue sei patentiert worden. Es ist aber markenrechtlich geschützt.