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Literatur

Ulrich Plenzdorf: "Die neuen Leiden des jungen W."

Aygül Cizmecioglu spe
6. Oktober 2018

Ein jugendlicher Aussteiger, der in einer Gartenlaube Goethes Klassiker liest und sich den strikten Regeln des Sozialismus verweigert. Plenzdorfs Buch war 1973 ein Schock fürs DDR-Establishment. Es machte ihn berühmt.

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Ulrich Plenzdorf
Bild: Imago/C. Thiel

"Kann sich einer ein Leben ohne Jeans vorstellen? Jeans sind die edelsten Hosen der Welt. Ich meine, Jeans sind eine Einstellung und keine Hosen."

Das nennt man wohl eine klare Meinung! Edgar Wibeaus Bekenntnis zum blauem Baumwollstoff mag schräg wirken. Aber was für eine Sprengkraft lag in diesen Sätzen, als 1973 Ulrich Plenzdorfs Buch erschien! Die Jeans galt in der DDR als Ausdruck westlicher Unkultur, als Symbol des Klassenfeindes. Es gab Tanzlokale, die mit Schildern an den Türen darauf hinwiesen, dass Nietenhosen unerwünscht waren. Wer West-Jeans trug, musste im Sozialismus draußen bleiben und gehörte wie Edgar Wibeau nicht dazu. 

"Die neuen Leiden des jungen W." von Ulrich Plenzdorf

Goethe auf dem Plumpsklo

Noch ungewöhnlicher als seine Liebeserklärung zur Jeans ist die Tatsache, dass hier ein 17-Jähriger aus dem Jenseits zu uns spricht. Ein jugendlicher Held, der beim Versuch ein "nebelloses Farbspritzgerät" zu bauen, einen Stromschlag erleidet und stirbt. Wibeau ist ein Aussteiger, der trotz exzellenter Noten die Schule schmeißt und in eine Gartenlaube am Rande Ost-Berlins zieht. Auf der Suche nach Selbstverwirklichung findet er zufällig auf dem Plumpsklo Goethes "Die Leiden des jungen Werther". Der DDR-Revoluzzer Edgar erkennt in Goethes Sturm-und Drang-Helden einen Wahlverwandten. Einen, der ebenso unangepasst ist wie er. 

Dieser Ostzonen-Werther ist unfähig, den sozialistischen Weg der Tüchtigen zu gehen. Er träumt von Selbstbestimmung, von Freiheit, und möchte leben, aber nicht die Sorte Leben, die das politischen Regime ihm zugedacht hat.

Edgar ist Kult!

Edgar Wibeau traf den Nerv einer ganzen Generation von jungen Menschen in der DDR. Sein schnodderiger Jugendslang, sein witziger Umgang mit Goethes Klassiker - das alles kam an. Das Buch verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter jungen Lesern. Ein Jahr zuvor hatte Ulrich Plenzdorfs gleichnamiges Stück schon im Landestheater Halle Premiere gefeiert und Zuschauer in Scharen angezogen. 

Filmstill - Die neuen Leiden des jungen W.
Für die Verfilmung seines Romans lieferte Ulrich Plenzdorf 1976 gleich selbst das Drehbuch.Bild: Imago/United Archives

Die Grenze zwischen Theater, Film und Literatur - für Ulrich Plenzdorf existierte sie nicht. Er packte seine Geschichten in Fernsehdrehbücher, schrieb Bühnenfassungen, Romane und Erzählungen. Es war sein seismografisches Gespür für kleine und große Ungerechtigkeiten, die seine Werke ausmachten und für die er gefeiert wurde. "Die neuen Leiden des jungen W." machte ihn auf beiden Seiten der deutsch-deutschen Grenze berühmt. Das Buch wurde über vier Millionen Mal verkauft, in 30 Sprachen übersetzt. Edgar Wibeau ist längst eine Kultfigur. Und zwar eine so kluge, dass Deutschlehrer Plenzdorfs jugendlichen Aussteiger manchmal Goethes Werther vorziehen. 

 

Ulrich Plenzdorf: "Die neuen Leiden des jungen W." (1973), Suhrkamp Verlag

Ulrich Plenzdorf wurde 1934 in Berlin geboren. Nach dem Abitur studierte er zunächst am Franz-Mehring-Institut in Leipzig und absolvierte schließlich die Filmhochschule Babelsberg. Im Anschluss an das Studium betätigte sich Plenzdorf als Drehbuchautor und Filmdramaturg. Seinen größten Erfolg als Schriftsteller erlangte er 1972 mit dem Stück "Die neuen Leiden des jungen W.", das 1973 auch als Roman erschien. In der Bundesrepublik wurde das Stück 1976 verfilmt. Nach der Wende arbeitete Plenzdorf vor allem als Drehbuchautor für Verfilmungen bekannter Ost-West-Stoffe. Er starb 2007 in Berlin.