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PolitikUkraine

Ukraine: Beginnt in Europa der Strategiewechsel?

12. Februar 2024

NATO-Generäle stellen sich auf eine gestiegene Kriegsgefahr durch Russland ein, fordern Investitionen in Abschreckung. Davon könnte auch die Ukraine profitieren.

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Das Bild zeigt den Abschuss einer Granate der ukrainischen Artillerie, die auf das Dorf Klischtschijiwka in der Region Donetsk feuert
Ukrainische Artillerie im Osten der Ukraine: Die Armee muss Granaten rationierenBild: Diego Herrera Carcedo/AA/Picture Alliance

Gleich mehrere hochrangige NATO-Militärs haben im Januar fast zeitgleich gewarnt, die Allianz müsse sich auf einen Konflikt mit Russland vorbereiten. "Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, dass wir in Frieden leben", warnte der niederländische Admiral und Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Rob Bauer, bei einer Pressekonferenz nach einem zweitägigen Treffen des Gremiums Ende Januar.

Das Bild zeigt die NATO-Pressekonferenz nach einer Sitzung des NATO-Militärausschuss in Brüssel unter Vorsitz des niederländischen Admirals Rob Bauer in der Bildmitte
Presskonferenz mit dem niederländischen Admiral Rob Bauer (Bildmitte) nach der Sitzung des NATO-Militärausschuss in Brüssel Ende JanuarBild: NATO/IMS

Vor dem Hintergrund von Russlands Großangriff auf die Ukraine, der sich im Februar zum zweiten Mal jährt, sagte der Norweger Erik Kristoffersen, es gebe jetzt ein "Zeitfenster, das vielleicht ein, zwei oder drei Jahre dauert, in dem wir noch mehr in eine sichere Verteidigung investieren müssen", so der Befehlshaber der norwegischen Streitkräfte nach Angaben der Tageszeitung "Dagbladet" aus Oslo. Und im Nachbarland Schweden forderte der Oberbefehlshaber Micael Bydén seine Landsleute und die Politik auf, von "Verständnis zu Taten überzugehen".

Appell der Militärs an die Politik

Fachleute sehen darin einen Appell der Militärs an die Politik in Europa für einen Strategiewechsel im Konflikt mit Russland. Die Hoffnung auf ein schnelles Ende des Krieges in der Ukraine mithilfe von westlichen Waffenlieferungen auf der einen Seite und Sanktionen gegen die russische Kriegswirtschaft auf der anderen habe sich nicht erfüllt, sagt der deutsche Sicherheitsexperte Nico Lange im Gespräch mit der DW.

Porträt Nico Lange
Der Sicherheitsexperte Nico LangeBild: DW

Was Militärs wie Analysten umtreibt, ist vor allem der Mangel an Munition, neuem Kriegsgerät und der Stand der Produktionskapazitäten in Europa.

Hier ist das Potential der militärischen Abschreckung der NATO eng verwoben mit den Lieferungen an die Ukraine. Die EU hatte vergangenes Jahr versprochen, der Ukraine bis März eine Million Granaten zu liefern. Der Plan scheiterte. Nach Ansicht von Ukraine- und Russlandkenner Lange, der auch für die Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) arbeitet, hat zum Beispiel die deutsche Regierung zu spät Übernahmegarantien gegenüber den Herstellern ausgesprochen. "Das macht man jetzt nach zwei Jahren", so Lange. Dabei sei der Bedarf nicht nur in der Ukraine, sondern auch in den geleerten Munitionslagern der NATO-Staaten hoch.

Investitionen in Drohnen, Munition, Kampffahrzeuge

Die NATO habe im schlechtesten Falle nur fünf Jahre Zeit, um so aufzurüsten, dass das Abschreckungspotential gegenüber Russland noch ausreiche, um einen möglichen Angriff auf NATO-Gebiet erfolgreich abzuschrecken. Das hatte bereits Ende 2023 der Leiter des Zentrums für Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Christian Mölling, in einer viel beachteten Analyse dargelegt

Und Gustav Gressel von der europäischen Denkfabrik ECFR (European Council on Foreign Relations) schreibt in einer aktuellen Analyse: "Der Westen und insbesondere die Europäer müssen ihre Finanzvorschriften überarbeiten und Größenvorteile schaffen, um die Produktion von Drohnen, Munition, gepanzerten Kampffahrzeugen und vielem mehr radikal zu fördern."

Gressel sieht die Strategie, der Ukraine vor allem vertraute Waffen aus Sowjetproduktion aus den Lagern der Staaten Ostmitteleuropas zu liefern, an ihr Ende angelangt. Es sei schlicht nichts mehr vorhanden. Die Rüstungsproduktion müsse massiv hochgefahren werden – für die Ukraine wie für die NATO-Staaten in Europa.

Neue Rheinmetall-Fabrik für 200.000 Artilleriegeschosse pro Jahr

Einzelne Firmen bauen nach und nach tatsächlich ihre Produktionskapazitäten aus: Mitte Februar besuchte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz die Grundsteinlegung eines neuen Werks des Rüstungskonzerns Rheinmetall. "Wir müssen weg von der Manufaktur – hin zur Großserien-Fertigung von Rüstungsgütern", sagte Scholz am Rheinmetall-Standort im Ort Unterlüß im Bundesland Niedersachsen. Dort trafen Scholz und der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius zu Gesprächen mit der dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen zusammen. Die Dänin und der deutsche Kanzler hatten zuvor in einem offenen Brief gemeinsam mit anderen europäischen Regierungschefs in der "Financial Times" einen Sinneswandel in der EU bei der Munitionsproduktion gefordert. Die EU-Staaten sollen die Munitionsaufträge an die Industrie künftig gemeinsam vergeben.

Das Bild zeigt Bundeskanzler Scholz mit Verteidigungsminister Pistorius neben dem Vorstandsvorsitzenden Papperger des Rüstungskonzerns Rheinmetall am Tag der Grundsteinlegung für ein neues Munitionswerk im Ort Unterlüß in Niedersachsen. Im Hintergrund beim Termin in einer Werkshalle ist die Kanone eines Panzers zu sehen
Grundsteinlegung für neues Munitionswerk beim Rüstungskonzern Rheinmetall am 12. Februar 2024: Rheinmetall-Chef Papperger, Verteidigungsminister Pistorius, Bundeskanzler Scholz (v.li.)Bild: Fabian Bimmer/REUTERS

Zeitgleich machte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron nach einem Treffen mit dem neuen polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk klar, dass davon vor allem die europäische Industrie profitieren soll. "Alles, was die EU leistet, um der Ukraine Rüstungsgüter und Munition zu liefern, muss auch dem Aufbau der europäischen Rüstungsindustrie dienen", so Macron. Europa solle zu einer "Verteidigungsmacht" ausgebaut werden in Ergänzung zur NATO, sagte Macron.

Fachleute hatten in den vergangenen Monaten kritisiert, dass die EU ihr Versprechen über die Lieferung von einer Million Artilleriegranaten an die Ukraine bis März 2024 auch deshalb nicht einhalten konnte, weil Brüssel die Geschosse nicht in großem Stil auf dem Weltmarkt einkaufen wollte.

Taktische Rückzüge der Ukraine von bereits befreitem Land?

Militärs wie Analysten blicken in diesem zweiten Kriegswinter in der Ukraine vor allem auf die Unterlegenheit der ukrainischen Streitkräfte im Artilleriekampf mit Russland, das offensichtlich eigene Lücken auch mit Lieferungen aus Nordkorea füllen kann, während die Ukraine die Geschosse rationieren muss. Das Verhältnis liege derzeit bei einer ukrainischen Granate auf fünf russische Abschüsse, sagt der Analyst Michael Kofman vom US-amerikanischen Center for Naval Analysis (CNA) in einem aktuellen Podcast der Reihe "War on the Rocks". Pessimistischere Analysen sprechen von einem Verhältnis von eins zu zehn.

Das Bild zeigt einen ukrainischen Soldaten auf einem Fußweg, der auf einen zerstörten Plattenbau in der umkämpften Stadt Awdijiwka blickt, wo Russland verstärkt angreift
Die umkämpfte Stadt Awdijiwka im Osten der Ukraine: US-Forscher Michael Kofman rechnet mit einem taktischen Rückzug der ukrainischen Armee Bild: Radio Free Europe/Radio Liberty/Serhii Nuzhnenko via REUTERS

Kofman hält es für möglich, dass sich die Ukrainer entlang der östlichen Front aus der umkämpften Stadt Awdijiwka zurückziehen müssen. Auch bei der weiter nördlich gelegenen Stadt Kupjansk drohe ein größerer russischer Angriff.

Damit werde zusehends deutlich, dass das Zögern bei Munition und Kriegsgerät in den vergangenen zwei Jahren jetzt dazu führe, dass sich die Ukraine von bereits befreitem Land wieder zurückziehen müsse, sagte DGAP-Forscher Christian Mölling zuletzt in einem Rundfunkinterview.

Allerdings sieht Nico Lange kurz vor der Münchner Sicherheitskonferenz, zu der dieses Jahr wieder Mitte Februar zahlreiche westliche Militärexperten zusammenkommen, tatsächlich den Beginn eines Strategiewechsels. Er sei getrieben von der militärischen Lage in der Ukraine und den Analysen westlicher Militärs, die auch den Rüstungsbedarf ihrer eigenen Streitkräfte im Blick haben.

Wichtig sei der "langfristige strukturierte Fähigkeitsaufbau der ukrainischen Streitkräfte, den wir jetzt angehen", sagte zuletzt der deutsche Generalmajor Christian Freuding in einem Interview mit der Zeitungsgruppe Redaktionsnetzwerk Deutschland.

Tatsächlich melden die ukrainischen Streitkräfte auch Erfolge gegen die russische Übermacht: Mit gezielten Luftangriffen auf russische Radarstellungen, Stützpunkte und Nachschubwege auf der Krim und in der Süd-Ukraine.

"Entscheidend" sei, schrieb Anfang Februar der damalige ukrainische Oberkommandierende Walerij Saluschnyj in einer Analyse für den US-Sender CNN, "dass unbemannte Systeme - wie z. B. Drohnen - zusammen mit anderen fortschrittlichen Waffentypen die beste Möglichkeit für die Ukraine darstellen, sich nicht in einen Stellungskrieg hineinziehen zu lassen, in dem wir nicht im Vorteil sind." Das bedeutet für die gut 50 Unterstützernationen des Landes unter Führung der USA: Die Lieferung von immer mehr Hightech-Waffen.

Die USA liefern an Saluschnyjs Truppen seit Anfang Februar sogenannte GLSDB-Präzisionsbomben des Herstellers Boeing-Saab mit einer Reichweite von 150 Kilometern. Damit liegt die Hauptversorgungsstraße der russischen Armee am Küstenstreifen zwischen der Krim und der südukrainischen Stadt Mariupol in ukrainischer Reichweite. Das bestätigt Nico Lange gegenüber der DW unter Berufung auf Sicherheitskreise. Auf die Präzisionswaffe hatte Kiew mehr als ein Jahr gehofft. Für die Ukraine "passieren im Moment ein paar Dinge, die in die richtige Richtung gehen", sagt Lange im DW-Interview. Ob der von westlichen und ukrainischen Militärstrategen getriebene Strategiewechsel auch bei der Politik in Europa ankommt, die letztlich eine Finanzierung für die Ukraine-Lieferungen über Jahre hinaus genauso wie für das Hochfahren der europäischen Rüstungsproduktion sicherstellen muss – das müsse sich zeigen, so Lange.

Dieser Text wurde erstmals am 6.2.2024 veröffentlicht und 12.2.2024 nach dem Besuch von Bundeskanzler Scholz bei Rheinmetall aktualisiert.