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PolitikRumänien

Rumänien: Der Krieg rückt an die Tür der NATO

26. Juli 2023

Erstmals bombardiert Russland ukrainische Donauhäfen - 200 Meter von der rumänischen NATO-Grenze. Es geht um mehr als nur den Stopp des Getreideexports. Doch das westliche Bündnis reagiert erstaunlich zurückhaltend.

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Im ukrainischen Donauhafen Reni wird Getreide auf Frachter umgeladen
Im ukrainischen Donauhafen Reni wird Getreide auf Frachter umgeladenBild: Sergii Kharchenko/NurPhoto/picture-alliance

Die rumänischen Binnenschiffer reagieren erst mit ungläubigem Staunen, dann panisch. In der Morgendämmerung filmen sie mit ihren Smartphones die anfliegenden Drohnen: winzige Punkte am Himmel mit schrillem Motorengeräusch. "Sie lassen die hier explodieren", ruft einer der Männer erschrocken, "die fallen direkt auf den Hafen!"

Anschließend blitzt in ein paar hundert Metern Entfernung erst der Feuerball einer Explosion auf, dann ertönt das Geräusch einer gewaltigen Detonation. "Lasst uns abhauen, Leute, der Krieg hat jetzt gleich gegenüber von Rumänien begonnen!", ruft einer der Binnenschiffer.

Der ukrainische Donauhafen Reni im Morgengrauen des 24.07.2023: Russland steuert 15 Drohnen des iranischen Typs Shahed-136 auf die Hafenanlagen. Einige werden von der ukrainischen Luftabwehr abgeschossen, andere explodieren im Hafen und zerstören dort Lagerhallen und Silos für ukrainisches Getreide. Sieben Menschen werden verletzt. Auch ein rumänisches Frachtschiff wird durch den Angriff beschädigt. Ebenfalls attackiert wird der weiter flussabwärts gelegene Hafen Ismajil - allerdings erfolglos.

Neueste Eskalationsstufe

So dicht wie am Morgen des 24. Juli ist Russlands Krieg gegen die Ukraine noch nie an eine NATO-Außengrenze herangerückt. Der Donauhafen Reni liegt im Länderdreieck Ukraine-Rumänien-Republik Moldau, etwa 120 Kilometer westlich der Donaumündung ins Schwarze Meer. An der Stelle der zerstörten Anlagen im Hafen Reni sind es gerade einmal 200 Meter bis zur Flussmitte, wo sich Rumäniens Staatsgrenze befindet - und damit die eines NATO-Landes. Nach weiteren 200 Metern ist das rumänische Ufer erreicht. Der moldauische Donauhafen Giurgiulesti wiederum liegt lediglich fünf Kilometer flussaufwärts. Und bis in die rumänische Donau-Großstadt Galati, 220.000 Einwohner, sind es ganze zehn Kilometer Luftlinie. Dass die wenig zielgenauen Shahed-Drohnen nicht auf NATO-Territorium niedergegangen sind - Glückssache.

Ein roter Frachter liegt im ukrainischen Donau-Hafen Reni. Im Hintergrund sind Silos zu sehen
Der ukrainische Donau-Hafen ReniBild: Sergii Kharchenko/NurPhoto/picture alliance

Der Angriff auf Reni ist die neueste Eskalationsstufe des russischen Bombenterrors, der vor gut einer Woche in den Schwarzmeerhafenstädten Odessa und Mykolajiw begann und sich vor allem gegen die Infrastruktur der ukrainischen Getreideexporte richtet. Zwar haben russische Raketen schon mal ein Stück rumänischen Luftraum durchflogen. Russische Raketentrümmer landeten in der Republik Moldau, eine russische Rakete schlug in einem polnischen Wald ein. Doch einen beabsichtigten Angriff so dicht an einer NATO-Außengrenze, noch dazu auf ein ziviles Ziel und in einer Gegend ohne bedeutende militärische Infrastruktur, hat Russland bisher nicht unternommen.

Donauroute soll ausgebaut werden

"Wladimir Putin will den Getreideexport der Ukraine mit allen Mitteln lahmlegen und sich zugleich auch dafür rächen, dass bestimmte Sanktionen gegen Russland, etwa im Bankensektor, nicht aufgehoben wurden", sagt der Bukarester Politologe Armand Gosu der DW. Gosu lehrt russische und sowjetische Geschichte und Diplomatie an der Universität Bukarest und ist einer der besten Kenner Russlands und des postsowjetischen Raumes in Rumänien.

Das Bild, das von den ukrainischen Streitkräften zur Verfügung gestellt wurde, zeigt eine beschädigte Metallwand und ein nicht identifizierbares beschädigtes Gebäude
Ein Getreidesilo in Reni wird bei einem russischen Angriff auf die Region Odessa am 24.07.2023 zerstörtBild: Ukrainian Ground Forces/ZUMA Press Wire/picture alliance

Die Ukraine ist dringend auf die Einnahmen aus dem Verkauf von Getreide und Ölsaaten angewiesen und hatte für den Export bislang drei Wege: Die größte Menge führte sie auch nach Beginn der russischen Vollinvasion in der Ukraine am 24.02.2022 über die Häfen Odessa und Mykolajiw auf der Schwarzmeerroute aus - dank eines unter internationaler Vermittlung ausgehandelten Abkommens mit Russland. Ein weiterer Teil gelangt seit Kriegsbeginn auf dem Landweg über Rumänien, Ungarn, die Slowakei und Polen auf die Weltmärkte. Die dritte Exportroute schließlich verläuft im Donaudelta über die ukrainischen Donauhäfen Reni und Ismajil sowie über einen Bereich des Schwarzen Meeres, der zu rumänischen Territorialgewässern gehört. Vor allem diese letztere Route möchte die Ukraine stark ausbauen.

Für Schiffe schwierig anzusteuern

Der Hafen des kleinen Ortes Reni (18.000 Einwohner) im äußersten Südwestzipfel der Ukraine ist zwar entlegen und auf dem Landweg eher umständlich zu erreichen, dafür bietet er jedoch den besseren Schifffahrtsweg: Von hier aus können auch größere Frachtschiffe noch ins Schwarze Meer fahren, und zwar über den rumänischen Sulina-Kanal, der am besten ausgebaute Flussarm im Donaudelta.

Donau-Hafen Ismajil
Der Donauhafen Ismajil in der Region Odessa in der UkraineBild: Sergii Kharchenko/NurPhoto/picture alliance

Der Donauhafen von Ismajil (70.000 Einwohner) wiederum, gelegen am nördlichen Kilija-Arm des Donaudeltas, ist zwar auf dem Landweg besser zu erreichen als Reni, jedoch können ihn nur weniger große Schiffe ansteuern. Ein Projekt zur Vertiefung bestimmter Donau-Abschnitte in diesem Bereich, etwa des Kanals Novostambulske/Bastroie, kommt nur schleppend voran und ist seit vielen Jahren ein kontroverses Thema zwischen Rumänien und der Ukraine.

Die NATO vorführen

Im Vergleich zur Schwarzmeer-Route von Odessa und Mykolajiw aus konnte über die Donauhäfen bisher nur ein Bruchteil des ukrainischen Getreides exportiert werden. So gesehen, scheint das Risiko eines Bombardements von Reni für Russland aufgrund seiner direkten Lage an der NATO-Grenze weitaus größer als der Nutzen. Doch dem Politologen Armand Gosu zufolge geht es bei dem Angriff um weit mehr als nur darum, den Getreideexport lahmzulegen. "Putin möchte zeigen, dass es ihm egal ist, wie nah seine Angriffe am NATO-Gebiet sind", sagt Gosu. "Mehr noch: Putins Ziel ist es, die NATO in ihrer Unentschlossenheit vorzuführen."

Das Bild zeigt zwei große Getreidesilos
Getreidesilos in KonstanzaBild: Daniel Mihailescu/AFP

Die rumänische Öffentlichkeit reagierte entsetzt und zutiefst besorgt auf das Bombardement der ukrainischen Donauhäfen - nicht nur, weil der Krieg so dicht an das Land herangerückt ist. Das Donaudelta ist eine Gegend, in der die Einwohner auf beiden Seiten einander historisch, sprachlich und kulturell eng verbunden sind. So etwa sind in der Hafenstadt Reni mehr als die Hälfte der Einwohner ethnische Rumänen.

Zynisches Spiel

Anders als in der Öffentlichkeit waren die offiziellen Reaktionen in Rumänien merkwürdig zurückhaltend. Der rumänische Staatspräsident Klaus Iohannis twitterte nur kurz, dass er Russlands Angriffe nahe an Rumänien scharf verurteile. Das Bukarester Verteidigungsministerium teilte lediglich mit, es gebe "keine direkten militärischen Bedrohungen des nationalen Territoriums".

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg spricht an einem Rednerpult, während der rumänische Staatspräsident Klaus Iohannis zuschaut. Im Hintergrund sind Fahnen Rumäniens und der NATO zu sehen.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und Rumäniens Präsident Klaus Iohannis nach Gesprächen in Bukarest im November 2022Bild: ANDREI PUNGOVSCHI/AFP

Die NATO gab eine Stellungnahme erst zwei Tage nach der Bombardierung des Hafens Reni ab. Darin wird Russlands Angriff scharf verurteilt. Außerdem heißt es: "Wir sind bereit, jeden Zentimeter des Bündnisterritoriums vor jedweder Aggression zu verteidigen." Insgesamt ist die Mitteilung in einem entschiedenen, jedoch nicht aggressiven Ton gehalten.

Der Politologe Armand Gosu sagt, die NATO wolle "eine Eskalation um jeden Preis vermeiden". "Die Eliten im Westen sind des Krieges inzwischen müde geworden und fürchten eher den Zusammenbruch Russlands als eine Niederlage der Ukraine", so Gosu. Deshalb werde die Ukraine auch nicht so unterstützt, wie es notwendig wäre. "Einen langen, eingefrorenen Konflikt wird es in der Ukraine nicht wegen Russland geben, sondern weil der Westen zu wenig Waffen liefert", prognostiziert Gosu. "Es ist ein zynisches Spiel."

Porträt eines lächelnden Mannes mit Brille und blonden Locken
Keno Verseck Redakteur, Autor, Reporter