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KonflikteEuropa

Orban will Netanjahu empfangen - trotz Haftbefehls

Veröffentlicht 21. November 2024Zuletzt aktualisiert 22. November 2024

Ist die Regierung Netanjahu verantwortlich für Kriegsverbrechen? Der Internationale Strafgerichtshof sieht dafür einen hinreichenden Verdacht. Als Reaktion auf den Haftbefehl provoziert Ungarn mit einer Einladung.

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Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban steht im Anzug und mit ausgebreiteten Armen vor einer blauen Wand, auf der "HU24EU - Hungarian Presidency of the Council of the EU 2024" steht.
Viktor Orban: Der Haftbefehl wird in Ungarn nicht umgesetzt werdenBild: Petr David Josek/AP/picture alliance

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban will den israelischen Regierungschef Benjamin Netanjahu umgehend zu einem Besuch nach Budapest einladen. Der rechtsnationale Orban, der im Moment auch Vorsitzender des Rates der Europäischen Union ist, will diesen Schritt als Protest gegen den internationalen Haftbefehl gegen Netanjahu verstanden wissen.

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) hatte am Donnerstag einen Haftbefehl gegen Netanjahu wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausgestellt. Der ungarische Regierungschef nannte den Haftbefehl im staatlichen Rundfunk "zynisch" und "politisch motiviert". Sollte der israelische Premier, seit langem ein enger Verbündeter Orbans, tatsächlich nach Ungarn kommen, würde der Haftbefehl nicht vollstreckt werden, versprach Orban.

Portraitaufnahme von zwei alten Männern mit grauen Haaren - links Israels Premier Benjamin Netanjahu, rechts Joav Galant. Der Hintergrund ist verschwommen.
Israels Premier Netanjahu (l.) und Ex-Minister Galant sollen in Den Haag erscheinen, fordert der StrafgerichtshofBild: Amir Cohen/REUTERS

Darf Ungarn den Haftbefehl nicht vollstrecken?

Damit würde Ungarn gegen den Vertrag zum Internationalen Strafgerichtshof verstoßen, den es wie 123 weitere Staaten weltweit unterzeichnet hat. Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, Anordnungen und Urteile des Gerichts in Den Haag durchzusetzen. 

Der ungarische Ministerpräsident lehnt auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes teilweise ab, des höchsten Gerichts der Europäischen Union in Luxemburg. Die EU wirft Ungarn seit Jahren schwere Verstöße gegen die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit vor.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hatte betont, dass der Strafgerichtshof nicht politisch, sondern juristisch entschieden habe. Seine Entscheidungen müssten geachtet und umgesetzt werden. Der Haftbefehl sei bindend und das gelte für alle EU-Staaten, da alle Vertragspartei des IStGH seien. Borrell, spanischer Sozialist, hatte in der Woche zuvor vorgeschlagen, die politischen Kontakte zur israelischen Regierung wegen ihres Vorgehens im Gazastreifen einzuschränken.

US-Präsident Biden empört

Die Reaktionen auf die Haftbefehle für Benjamin Netanjahu, seinen ehemaligen Verteidigungsminister Joav Galant und den Hamas-Terroristen Mohammed Diab Ibrahim Al-Masri (genannt Deif) haben international heftige Reaktionen ausgelöst.

Ein Mann blickt in eine Kamera, ähnlich einem Passfoto: Hamas-Führer Mohammed Deif, geboren als Mohammed Diab Ibrahim Masri, auf einem undatierten, aber mindestens 24 Jahre alten Archivfoto
Hamas-Führer Deif, geboren als Mohammed Diab Ibrahim Al-Masri, auf einem undatierten, aber mindestens 24 Jahre alten ArchivfotoBild: HO/AFP

Der US-amerikanische Präsident Joe Biden kritisierte in Washington, das Gericht stelle den demokratischen gewählten Ministerpräsidenten auf eine Stufe mit einem palästinensischen Terroristen. "Der Haftbefehl gegen einen israelischen Führer ist empörend", so der scheidende Präsident. Die USA sind der engste Verbündete Israels, politisch und militärisch. Weder Israel noch die USA sind Vertragsparteien des Internationalen Strafgerichtshofes. Sie bestreiten seine Zuständigkeit.

Deutschland prüft

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis90/Die Grünen) zog sich in einem Fernsehinterview auf die Position zurück, Deutschland müsse die Haftbefehle des Gerichts in Den Haag "eigentlich" vollstrecken. Die Juristen der Regierung prüften, was die Anordnung des IStGH genau für Deutschland bedeute. Im Moment stehe aber kein Besuch Netanjahus an.

Eine Frau steht links im Bild in einem holzgetäfelten Raum neben einer deutschen Fahne (Bundesaußenministerin Annalena Baerbock), rechts neben ihr ein Mann neben einer israelischen Fahne (Israels Premier Benjamin Netanjahu), beide reichen sich die jeweils rechte Hand. Mittig hinter ihnen steht eine EU-Fahne.
Außenministerin Baerbock reiste seit dem Terrorangriff der Hamas mehrfach nach Israel: Unterstützung ist deutsche PflichtBild: Ilia Yefimovich/dpa/picture alliance

Regierungssprecher Steffen Hebestreit ergänzte, Deutschland sei als Ergebnis der deutschen Geschichte einer der größten Unterstützer des Gerichtshofs. Damit bezieht der Regierungssprecher sich auf die Nazi-Diktatur. Gleichzeitig resultierte aus dieser Geschichte, so Hebestreit, "dass uns einzigartige Beziehungen und eine große Verantwortung mit Israel verbinden". Andere EU-Staaten, wie die Niederlande oder Italien, erklärten, sie würden den Haftbefehl vollstrecken, obwohl sie die Ansicht des Gerichts zum israelischen Vorgehen gegen die Hamas nicht teilten.

Schwere Vorwürfe des Anklägers

Der Chefankläger der IStGH möchte Netanjahu, Galant und Deif wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Verantwortung ziehen. Der Gerichtshof hatte nach monatelanger Prüfung einem Antrag von Karim Khan, internationale Haftbefehle gegen alle drei Personen zu erlassen, am Donnerstag stattgegeben.

Das Gericht sieht "vernünftige Gründe" anzunehmen, dass Premierminister Netanjahu und sein ehemaliger Verteidigungsminister Hunger als Waffe "gezielt und absichtlich" gegen die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen eingesetzt haben. Die Versorgung der Menschen mit Wasser, Strom und medizinischer Hilfe sei unmöglich gemacht worden, auch für Hilfsorganisationen vor Ort. Dieses Vorgehen erfülle wahrscheinlich nicht den Tatbestand der "Ausrottung" als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wohl aber sei es als "Mord" zu werten, teilte der Strafgerichtshof mit. Außerdem werfen die Richter Netanjahu und Galant vor, gezielt Zivilisten im Gazastreifen anzugreifen, was nach Kriegsvölkerrecht verboten ist. Das Gericht bezieht sich auf untersuchte Taten vom 8. Oktober 2023 bis zum 20. Mai 2024. An diesem Tag hatte Ankläger Khan die Haftbefehle gegen die Führung der Hamas und des Staates beantragt.

Gaza: Wie viel Lebensmittelhilfe kommt an?

Am 7. Oktober 2023 hatten Hamas-Terroristen über 1200 Menschen in Israel ermordet und 251 Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. 101 Geiseln sind immer noch in der Gewalt der Hamas. Israel hatte daraufhin mit massiven Schlägen und Militäroperationen gegen die Terrororganisation Hamas geantwortet. Der Gazastreifen liegt zu großen Teilen in Trümmern. Nach Angaben der Hamas, die derzeit nicht überprüft werden können, sind mehr als 40.000 Menschen im Gazastreifen umgekommen.

Den internationalen Haftbefehl gegen den militärischen Chef der Hamas, Deif, begründet das Gericht mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mord, Ausrottung, Folter, Vergewaltigung und Geiselnahme. Deif sei verantwortlich für die Angriffe auf Kibbuze und ein Musikfestival im Süden Israels am 7. Oktober 2023 und darauf folgende Taten. Da nicht klar festgestellt werden konnte, ob der Beschuldigte noch lebt, wurde der Haftbefehl vorsorglich trotzdem ausgestellt.

Netanjahu: "Schwarzer Tag"

Netanjahu beschimpfte die Richter als "antisemitisch". Sein Büro in Jerusalem teilte mit: "Israel weist mit Abscheu die absurden und falschen Aktionen zurück, die der IStGH gegen es angezettelt hat."  Der israelische Staatspräsident nannte die Ausstellung der Haftbefehle "einen schwarzen Tag für die Gerechtigkeit. Einen schwarzen Tag für die Menschheit." Die internationale Gerichtsbarkeit werde so zu einer Lachnummer, mokierte sich Präsident Izchak Herzog.

Balkees Jarrah, Spezialistin für internationales Recht bei der Hilfsorganisation Human Rights Watch, erklärte gegenüber der DW, nun hänge es an den Regierungen, ob der Gerichtshof sein Mandat auch erfüllen könne. "Diese Haftbefehle sollten die internationale Gemeinschaft endlich dazu bringen, die Gewaltverbrechen zu beenden und Gerechtigkeit für alle Opfer in Palästina und Israel zu sichern", so Balkees Jarrah.

Demonstranten mit Trommeln und Plakaten abends in Tel Aviv
Demonstration in Tel Aviv am 5. November für Freilassung der Geiseln, die die Hamas noch gefangen hältBild: Jack Guez/AFP

Israel erkennt Internationalen Strafgerichtshof nicht an

Obwohl Israel nicht Vertragspartei des Internationalen Strafgerichtshofes ist, sehen sich die Den Haager Richter dennoch als zuständig an. Denn Palästina sei sehr wohl unter ihrer Jurisdiktion - das umfasse das israelisch-besetzte Westjordanland und den Gazastreifen. Dem Gericht, das auf einem internationalen Vertrag von 1998 basiert, sind 124 Staaten der Erde beigetreten. Nicht dabei sind - neben Israel und den USA - Russland, China und der Iran.

Ob Netanjahu tatsächlich verhaftet würde, wenn er ein Mitgliedsland des Gerichtshofes reisen würde, sei dahingestellt. Der russische Präsident Wladimir Putin, international gesucht wegen Kriegsverbrechen in der Ukraine, reiste im Oktober unbehelligt in die Mongolei, die Vertragspartei ist. Trotz Aufforderungen durch den Gerichtshof, Putin festzunehmen, blieben die mongolischen Behörden untätig. Außer Appellen hat der Strafgerichtshof keine Mittel in der Hand.

Sieben Richterinnen und Richtern gehen hintereinander zu ihren Plätzen im Gerichtssaal
Richterinnen und Richter am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag: Werden Sie im Konflikt zwischen Israel und der Hamas Recht sprechen?Bild: Nick Gammon/AFP/Getty Images

Der Internationale Strafgerichtshof ist immer dann zuständig, wenn die Gerichte eines Landes unfähig oder nicht in der Lage sind, Anschuldigungen gegen die Menschlichkeit nachzugehen. Er geht gegen einzelne Personen vor und ist nicht zu verwechseln mit dem Internationalen Gerichtshof (IGH). Dieser Gerichtshof der Vereinten Nationen ist für Streit von Staaten untereinander zuständig und hat seinen Sitz ebenfalls in Den Haag in den Niederlanden.

Dieser Artikel wurde ursprünglich am 21.11.2024 veröffentlicht und am 22.11.2024 aktualisiert.

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