Niederländer und Briten starten Europawahl
23. Mai 2019Für die Wahlen zum Europäischen Parlament braucht man vier Wahltage. Nicht weil es technisch zu kompliziert wäre, 420 Millionen potenzielle Wähler an einem Tag abstimmen zu lassen, es liegt an den unterschiedlichen Traditionen in den 28 Mitgliedsstaaten. Auf solche Unterschiede wird Wert gelegt. Und das zeigt: Die Europäische Union hat nicht alles eingeebnet, wie manche Populisten im Wahlkampf der EU vorwerfen.
So beginnen die Niederländer und Briten mit ihrem Votum an diesem Donnerstag. Am Freitag öffnen die Wahllokale in Irland und der Tschechischen Republik. Am Samstag folgen Lettland, Malta und die Slowakei. Und auch in Tschechien geht die Wahl weiter, dort lässt man sich zwei Tage Zeit. Am Sonntag dann folgen die übrigen 21 EU-Staaten.
Die amtlich ausgezählten Ergebnisse dürfen aus allen Staaten erst am Sonntagabend nach 22 Uhr veröffentlicht werden. Dann schließen die letzten Wahllokale - und zwar in Italien. Ein Hochrechnung wird es allerdings schon vorher geben. Bereits gegen 21 Uhr wird das Europäische Parlament eine erste Prognose für die Verteilung der 751 zu vergebenden Sitze bekanntgeben.
Frei und allgemein, aber nicht gleich
Genauso uneinheitlich wie der Wahltag ist auch das Wahlrecht. Alle 28 Mitgliedsstaaten wählen nach ihren eigenen Regeln, wenn es um Listen, Stimmengewichtung, Wahlkreise, Briefwahlmodus, Sperrklauseln oder das Mindestalter für Kandidaten geht. Als einziges Land bietet Estland "e-voting" an: Schon seit Tagen können die Balten online abstimmen.
Das Bundesverfassungsgericht hat 2011 geurteilt, dass die Wahlen zum Europäischen Parlament zwar frei und allgemein, aber nicht "gleich" sind, weil eben überall unterschiedliches Wahlrecht gilt und die Stimmen unterschiedlich viel Gewicht haben.
Luxemburg zum Beispiel entsendet sechs Abgeordnete, die 600.000 Menschen repräsentieren. Deutschland entsendet 96 Abgeordnete nach Straßburg, die 82 Millionen Menschen vertreten. Würde man für Deutschland den gleichen Schlüssel anlegen wie in Luxemburg, müssten sich 820 deutsche Abgeordnete im Plenarsaal tummeln. Die Zumessung der Sitze pro Mitgliedsland ist also - wie alles in Europa - ein Kompromiss, um die Abläufe in der Praxis organisieren zu können.
Etablierte EU-Befürworter werden schwächer
Die Wahlforscher sagen Verluste für die großen etablierten Blöcke voraus. EU-weit werden Christdemokraten und Sozialdemokraten wohl Sitze im Parlament einbüßen. Gewinnen werden die Liberalen, die Grünen und die Rechtspopulisten. Der Stimmenanteil der EU-Skeptiker und EU-Gegner könnte von etwa 17 auf bis zu 23 Prozent anwachsen. "Von einer Machtübernahme sind die Rechtspopulisten aber weit entfernt", meint der Politikanalyst Janis Emmanouilidis vom Brüsseler Thinktank "European Policy Centre". Er bezweifelt, dass sich die Rechtspopulisten in einer großen Fraktion sammeln werden, wahrscheinlicher seien drei kleine.
In jedem Fall wird es künftig wohl schwieriger, Mehrheiten für europäische Gesetze und Personalentscheidungen im Parlament zu organisieren. Bislang reichte eine informelle "Große Koalition" zwischen Christdemokraten und Sozialdemokraten. In Zukunft wird man auch Stimmen aus anderen Fraktionen brauchen.
Briten müssen mitmachen
Außergewöhnlich wird diese neunte Direktwahl zum einzigen supranationalen Parlament der Welt dadurch, dass Großbritannien noch einmal mitwählen muss, obwohl es - Stand heute - am 31. Oktober 2019 aus der EU austreten wird. Auch wenn viele das nicht wollen, sind die Briten rechtlich dazu verpflichtet, EU-Abgeordnete zu bestimmen. Führend in den Umfragen ist die neue "Brexit-Party" des EU-Abgeordneten Nigel Farage, der bereits seit 20 Jahren im Straßburger Plenum gegen die EU wettert. Sollten die Konservativen in der EU-Wahl tatsächlich unterliegen, könnte es sein, dass die britische Premierministerin Theresa May gestürzt wird.
In vielen Mitgliedstaaten gelten die Europawahlen als so etwas wie Testwahlen für die nationale Ebene. In Frankreich wird es spannend, weil der liberale Präsident Emmanuel Macron und die Rechtspopulistin Marine le Pen Kopf an Kopf liegen. In Italien wird sich zeigen, ob die Rechtsradikalen zusammen mit den Konservativen so stark werden, dass sie auch bei nationalen Wahlen führen würden. Innenminister Matteo Salvini (Lega) könnte dann in Rom die Koalition mit der linkspopulistischen Bewegung "5 Sterne" platzen lassen, um Neuwahlen zu provozieren. In Deutschland könnte die "Große Koalition" aus Union und SPD wackeln, wenn die Sozialdemokraten ein desaströses Ergebnis einfahren. Es gibt auch Spekulationen, dass sich Bundeskanzlerin Angela Merkel von ihrem Amt verabschieden könnte.
Wahlbeteiligung bleibt vermutlich schwach
Beide Spitzenkandidaten der großen Blöcke, der Deutsche Manfred Weber (Christdemokraten) und der Niederländer Frans Timmermans (Sozialisten), haben den Urnengang zur"Schicksalswahl" für die Zukunft Europas erklärt. Es geht aber auch um ihr persönliches Schicksal. Beide wollen Präsident der EU-Kommission werden. Bereits zwei Tage nach der Wahl wollen die Staats- und Regierungschefs bei einem Sondergipfel in Brüssel über die Postenvergabe beraten. Sie schlagen einen Kandidaten vor, der dann vom frisch gewählten Parlament bestätigt werden muss.
In Deutschland druckt eine Bäckerei-Kette EU-Logos auf ihre Brötchentüten, um die Wähler zu mobilisieren. In einigen Mitgliedsländern kann man am Wahlsonntag umsonst Elektro-Roller mieten, wenn man damit ins Wahllokal fährt. Ob die europäischen Wählerinnen und Wähler sich von solchen Angeboten überzeugen lassen, ist fraglich. Die Wahlbeteiligung sinkt seit 1979, seit den ersten direkten Wahlen. Vor fünf Jahren lag sie im EU-Durchschnitt noch bei 42 Prozent. Aber auch hier zeigen sich die Mitgliedstaaten äußert divers: In Belgien geben fast 90 Prozent der Menschen ihre Stimme ab. In der Slowakei nur 13 Prozent.