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Das 9-Euro-Ticket ist nicht vorbei

Mathis Richtmann
31. August 2022

Die Bundesregierung versäumt es, mit dem Erhalt des 9-Euro-Tickets die Inflation weiter zu dämpfen. Aber aus den Köpfen der Leute wird die beliebte Flatrate nicht mehr verschwinden, meint Mathis Richtmann.

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Vier junge Leute demonstrieren für die Fortsetzung des 9-Euro-Tickets.
Insbesondere bei jungen Leuten und solchen mit niedrigem Einkommen war das 9-Euro-Ticket sehr beliebtBild: Hannes P. Albert/dpa/picture alliance

Einen heißen Sommer lang zeigte die Bundesregierung, was sie drauf hat: Das 9-Euro-Ticket hallt in der politischen Erinnerung wie ein fettes "na, geht doch" nach und die Menschen in Deutschland werden nicht vergessen, was der Staat kann, wenn er will. Denn das Ticket hat fast im Alleingang die Inflation in Deutschland gedrückt. Ganze zwei Prozentpunkte niedriger lag die Preissteigerung im Land wegen des Pauschaltickets, so hat es das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft (IW) berechnet.

Der Clou: Preise für Nahverkehr, aber auch Pflege, Kultur oder Wasserversorgung sind in Deutschland staatlich festgelegt. Senkt die Regierung diese Preise, sinkt anteilig auch das allgemeine Preislevel - also die Inflation. Das IW verbindet seine Berechnung jedoch mit einer klaren Warnung: Ab September wird die Inflation wieder deutlich höher ausfallen, weil das 9-Euro Ticket ausläuft und auch der Tankrabatt - die Senkung der Energiesteuer an der Zapfsäule - wegfällt.

Die Macht des Staates verkannt

In ganz Deutschland gingen am vergangenen Wochenende Menschen für die Verlängerung des Tickets auf die Straße. Über den Sommer verteilt haben 38 Millionen Menschen mit ihrem Geldbeutel für die Maßnahme gestimmt. Aber der deutsche Finanzminister Christian Lindner (FDP) gibt sich als grundsätzlicher Gegner des Flatrate-Tickets und viele Bundesländer wehren sich gegen eine Fortführung des Tickets, weil ihnen das Geld fehlt.

DW Volos 2022 | Mathis Richtmann
Mathis Richtmann ist DW-VolontärBild: Philipp Böll/DW

Dabei müsste es der Staat richten. Die steigenden Preise in Deutschland sind zu einem Großteil den hohen Kosten für Energie geschuldet. Dennoch zeigen die meisten Finger Richtung Frankfurt, wo die Europäische Zentralbank ihren Sitz hat. Die EZB solle durch Zinserhöhungen die Inflation bekämpfen. Aber Zinserhöhungen werden den Gasmarkt nicht entspannen. Viel eher wirken direkte, staatliche Eingriffe in die Preise, wie das 9-Euro-Ticket so eindrücklich zeigt.

Wir sollten langsam zur Einsicht gelangen, dass Deutschland nicht nur aufgrund seiner Waffenlieferungen an die Ukraine längst mit einem Bein im Krieg steht. Auch wirtschaftspolitisch ließe sich aus der Vergangenheit lernen, wie ein Blick in die Vereinigten Staaten zeigt.

Das 9-Euro-Ticket war ein Erfolg

Um der grassierenden Inflation während des Zweiten Weltkriegs Herr zu werden, begann die Roosevelt-Administration erst zögerlich in die Produktionspreise für einzelne Rohstoffe einzugreifen. Ab 1942 ermöglichte die General Maximum Price Regulation weitreichende Obergrenzen für die Preise im US-Markt. Das Projekt war erfolgreich. Der Staat und Firmen konnten mit den Preisen wieder langfristig planen. Die Preise stabilisierten sich und vor allem expandierte die Produktion.

Von dieser gestalterischen Politik könnte die deutsche Bundesregierung lernen. Das 9-Euro-Ticket wirkte wie ein Preisdeckel für regionale Züge und öffentlichen Nahverkehr. Damit erlaubte es Menschen in Deutschland nicht nur billig von A nach B zu kommen. Sondern für drei Monate war klar, dass es einen festen Preis für langsame Reisen gibt: 9 Euro. Diese Verlässlichkeit kam gut an.

Der Zuspruch für das Ticket wundert kaum. Nach zwei Jahren staatlicher Eingriffe in die Bewegungsfreiheit kam vielen die zügige Umsetzung des Tickets wie ein Licht am Ende des Tunnels vor. Und das Ticket funktionierte: Mobilitäts-Apps und Fahrkartenautomaten wurden schnell umgestellt und die Kleinstaaterei der Verkehrsverbünde, die in Deutschland den Nahverkehr organisieren, war für einen stickigen Sommer vergessen.

Gleichzeitig legte der durch das Ticket ausgelöste Massensturm auf die Bahn die Versäumnisse der jüngeren Vergangenheit offen: Mindestens 50 Milliarden Euro Investitionen fehlen im Schienenverkehr, das Personal ist an der Belastungsgrenze. Verweise der Regierungsparteien auf fehlendes Geld sind damit schlichtweg fehl am Platz.

Die gestalterische Macht des Staates einsetzen

Vielmehr ist die aktuelle Krise der Lebenshaltungskosten so eklatant, dass wir jeden einzelnen Prozentpunkt Inflation einsparen sollten. Das 9-Euro-Ticket hat den Staat in drei Monaten 2,5 Milliarden Euro gekostet, dazu kommen weitere Kosten, die von den Bundesländern oder Bahnbetrieben selbst getragen werden müssen.

Der Bund könnte jedoch diese Summe leicht nochmal in die Hand nehmen. Die Auswirkungen auf den Haushalt wäre nichts im Vergleich zu den Verwerfungen, die dieser Winter bringen könnte. Schon jetzt fürchtet der Brandenburger Verfassungsschutz einen "Wutwinter". Extremisten könnten die steigenden Preise ausnutzen, um zu gewalttätigen Protesten aufzurufen. Mit Entlastungen sollte der Staat jetzt gegensteuern. Wie wäre es, wenn diejenigen, die im Winter gegen Preisexplosion und Corona-Maßnahmen demonstrieren, mit dem 9-Euro-Ticket zum Protest fahren könnten?

Selbstverständlich kann es bei dieser einen Maßnahme nicht bleiben, um die Verwerfungen der Preisexplosion abzufangen. Aber der Erfolg des Tickets wird Diskussionen über Preisdeckel in anderen Bereichen befeuern. Für die Menschen in Deutschland ist nämlich jetzt klar: Der Staat kann sehr wohl etwas tun, wenn er will. Und wenn er seine gestalterische Macht einsetzt, wird die Krise insbesondere für Leute mit kleinerem Geldbeutel wieder übersichtlicher.