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Krieg in 140 Zeichen

Philipp Jedicke8. August 2014

Gaza, Ukraine, Syrien, Irak … kein Tag vergeht ohne Tweets und Meldungen von kriegerischen Auseinandersetzungen. Die Zahl der Krisenherde scheint rapide zuzunehmen. Oder kommt es uns nur so vor?

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Bombardierung Gazas durch Israel (Foto: dpa)
Bild: picture alliance/dpa

Selten zuvor wurde in Deutschland so ausgiebig über bewaffnete Konflikte berichtet und diskutiert wie dieser Tage. Nicht erst seit der jüngsten Eskalation zwischen Israel und Gaza sind klassische Medien und soziale Netzwerke gleichermaßen voll von Meldungen aus Krisengebieten. Und tatsächlich: Laut Sam Perlo-Freeman, Projektleiter am renommierten Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI und Experte für Militärausgaben, nehmen bewaffnete Konflikte nach einer vergleichsweise friedlichen Periode vom Ende des Kalten Krieges bis Mitte der 2000er wieder zu. "Das Uppsala Conflict Data Program (UCDP), die wohl zuverlässigste Datenquelle zu bewaffneten Konflikten, verzeichnet einen leichten Anstieg an innerstaatlichen Konflikten, aber vor allem einen klaren Anstieg an Opferzahlen", sagte Perlo-Freeman im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Das liegt hauptsächlich am Bürgerkrieg in Syrien."

Mädchen nach Luftangriff in Gaza-Stadt (Foto: Reuters)
Ein palästinensisches Mädchen nach einem Luftangriff in Gaza-StadtBild: Reuters

Krieg in Echtzeit

Doch unsere Wahrnehmung dieser kriegerischen Zeit wird durch einen entscheidenden Faktor verstärkt: die sozialen Netzwerke. Die Bilder von Flüchtlingsströmen in Syrien und aus den Straßen des Gazastreifens sind erschütternd. Ein großer Teil von ihnen erreicht uns über Twitter und Facebook. Der US-Journalist David Carr schrieb kürzlich in der New York Times: "Geopolitik und die Allgegenwart der sozialen Medien haben die Welt zu einem kleineren und scheinbar blutigeren Ort gemacht."

Perlo-Freeman sieht in der Entwicklung der sozialen Medien im Hinblick auf kriegerische Auseinandersetzungen vor allem eine Demokratisierung: "Es bedeutet, dass wir viel mehr Informationen von Menschen vor Ort erhalten und damit eine viel größere Bandbreite an Perspektiven und Stimmen als zu Zeiten, in denen die Nachrichten ausschließlich von großen Medienhäusern dominiert waren. Im Fall von Gaza hat Israel in der internationalen Meinung heute einen wesentlich schwierigeren Stand als bei der 'Operation Gegossenes Blei' vor sechs Jahren, denn Bilder der Todesopfer werden mittlerweile in Echtzeit aus Gaza getwittert."

Mannigfaltige Propagandamöglichkeiten

Die ungefilterte Natur der Informationen in sozialen Netzwerken ist Fluch und Segen zugleich, denn so schnell die Bilder im Internet auftauchen, so schnell werden sie instrumentalisiert. Wie zuletzt im Falle der Bilder von israelischen Soldatinnen, die sich für eine militärische Übung gegenseitig als Verwundete schminkten. Die Fotos wurden aus dem Zusammenhang gerissen und auf Twitter unter der Überschrift "So führt Israel die Menschen in die Irre" präsentiert. Die Süddeutsche Zeitung brachte das Problem auf den Punkt: "Jede Information wird geglaubt, so lange sie das eigene Feindbild bestätigt." Die sozialen Medien werden selbst zum Kriegsschauplatz.

Besonders in den beiden Fällen Nahostkonflikt und Ukraine-Krise bemühen sich jeweils beide Konfliktparteien um die Deutungshoheit im Netz. Und wie so oft ist das erste Opfer des Krieges die Wahrheit. Sam Perlo-Freeman: "Die Leser sollten bei solchen Informationen stets vorsichtig sein und nach Möglichkeiten suchen, die Daten zu überprüfen." Denn die beschleunigte Bildproduktion und die gleichzeitige Vereinfachung von hochkomplexen Zusammenhängen führt auch zu einer Verschärfung der Konflikte außerhalb der Krisengebiete. Im Fall von Israel und Gaza sind nicht nur die Fronten zwischen den Kriegsparteien selbst, sondern auch jene zwischen ihren Unterstützern härter geworden. In Deutschland und Frankreich kam es bei Protesten gegen Israel sogar zu antisemitischen Ausschreitungen.

Sam Perlo-Freeman (Foto: SIPRI)
Friedensforscher Sam Perlo-FreemanBild: SIPRI

Eine weitere Auswirkung der Bilderflut ist der Verlust der Verhältnismäßigkeit in der Berichterstattung: Angesichts der Masse an Meldungen, Tweets und Posts zu Nahost und der Ukraine drohen die andauernden Konflikte in Mali, Nigeria, dem Kongo oder Sudan in medialer Bedeutungslosigkeit zu versinken. Siegt am Ende der, der am meisten twittert?

Diplomatie in der Kritik

Die Diskrepanz zwischen jederzeit abrufbaren Kriegsbildern und dem langwierigen diplomatischen Ringen um eine friedliche Lösung der Konflikte ist enorm. Dies führt zu Frust: In Kommentar-Threads und bei Straßenprotesten machen die Menschen ihrer Wut über die scheinbare Tatenlosigkeit der internationalen Staatengemeinschaft Luft. Diese wirkt ohnmächtig gegenüber dem aktuellen Konflikt im Nahen Osten und den andauernden Bürgerkriegen in Syrien und der Ukraine. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk sah sich der Grünenpolitiker und Menschenrechtsexperte Tom Koenigs jüngst genötigt, die Vereinten Nationen zu verteidigen. Sie sei "die internationale Organisation, die sich vorbehaltlos für den Schutz der Zivilbevölkerung" einsetze. "Das ist wichtig und das ist notwendig."

Tom Koenigs (Foto: dpa)
Grünenpolitiker und Menschenrechtsexperte Tom KoenigsBild: picture-alliance/dpa

Sam Perlo-Freeman gibt ihm in dieser Einschätzung Recht. Ein Blick in die Welt zeige, dass es selbst bei verhärteten Fronten diplomatische Lösungen gebe. "Während der Bush-Regierung und dem Krieg gegen den Terror gab es eine Bewegung weg von diplomatischen Lösungen bewaffneter Konflikte", so Perlo-Freeman, "in jüngster Zeit kommen sie aber wieder in Mode. Die kolumbianische Regierung verfolgt aktiv Friedensverhandlungen mit der FARC, die Türkei bemüht sich vorsichtig um Verhandlungen mit der PKK, und selbst im Nahen Osten verfolgen die USA und Iran eine ernsthafte diplomatische Agenda. Das hat es in dieser Form seit der Islamischen Revolution 1979 nicht mehr gegeben." Und er fügt hinzu: "Die Diplomatie ist lange nicht am Ende. Sie hat es nur nicht geschafft, die Bandbreite an Konflikten, die in der Folge des Arabischen Frühlings entstanden sind, in den Griff zu kriegen. Was die Ostukraine betrifft, gibt es zwar ernsthafte Spannungen, aber Russland und der Westen unterhalten weiterhin starke diplomatische Beziehungen. Ich denke nicht, dass uns ein neuer Kalter Krieg bevorsteht."

Vielleicht ist die klassische Diplomatie ja gerade in Zeiten von Facebook und Twitter wichtiger denn je. Die Komplexität eines Krieges lässt sich eben schlecht in 140 Zeichen ausdrücken.