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Kölner Ausstellung über Raubkunst aus Kenia

30. Mai 2021

Das Projekt "Invisible Inventories" thematisiert, welche Folgen koloniale Raubkunst für Kenia hat: Sie reißt ein tiefes Loch in die Identität der Menschen.

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Ein dunkelbrauner an zwei Seiten gezinkter Kamm
Nicht immer sind es Masken oder Skulpturen: Unter den afrikanischen Kulturgütern in westlichen Museen sind auch AlltagsgegenständeBild: Rautenstrauch-Joest-Museum

Kenia: Die heilige Trommel der Pokomo

Was wäre eine katholische Kirche ohne ein Kreuz? Oder ohne Weihwasserbecken, ohne Heiligenstatuen oder Tabernakel? Ein Ort der Zusammenkunft, aber auch nicht viel mehr. Glaube drückt sich schließlich nicht nur im Kontakt mit anderen Menschen aus, sondern auch in Gegenständen, die Teil religiöser Rituale sind. 

Womöglich würde das Wissen um diese Rituale ohne ihr Vorhandensein über die Jahre verblassen, die Bedeutung dieser Handlungen verschwinden, bis sich die nachfolgenden Generationen gar nicht mehr daran erinnern. Diese Erfahrung mussten die Pokomo machen, eine kenianische Volksgruppe, die am Tana-Fluss lebt.  

Nahaufnahme von Emmanuel Nzimba, Mitglied im Ältestenrat der Volksgruppe Pokomo
Emmanuel Nzimba: "Unsere Tradition ist eng mit der Ngadji verbunden"Bild: Christine Kinyanjui/DW

Einst betrachteten die Pokomo eine Trommel als Symbol der obersten Autorität. Sie bezeichnen sie als die Ngadji. Die Trommel stand im Zentrum des spirituellen und gemeinschaftlichen Lebens: "Die Menschen konnten keine Zeremonie durchführen, ohne dass die Ngadji dabei war", berichtet Emmanuel Nzimba im Gespräch mit der DW. Nzimba gehört zum Kidjo, dem Ältestenrat der Pokomos. "Unter der Aufsicht der Kidjo-Ältesten verhielten sich die Kinder sittsam. Heutzutage kennen die Kinder keine guten Sitten mehr, sie befolgen keine Gesetze, denn ohne die Ngadji gibt es keine Tradition." 

Schmerzhafter Identitätsverlust

1902 nahmen britische Kolonialbeamte die Ngadji gewaltsam an sich. Sechs Jahre später landete die Trommel im British Museum, wo sie sich auch heute noch befindet. Dort räumt man zwar ein, dass die Ngadji "konfisziert" wurde, doch Gespräche über eine mögliche Rückgabe zwischen den Pokomo und den Museumsverantwortlichen blieben bislang ohne Erfolg. 

Drei Benin-Bronzen aus dem heutigen Nigeria im Museum für Kunst und Gewerbe (MKG).
Die Benin-Bronzen sind ein bekanntes Beispiel für Kunst aus kolonialem KontextBild: Daniel Bockwoldt/dpa/picture alliance

Verluste wie diese erfuhren etliche Staaten und Volksgruppen auf dem afrikanischen Kontinent: Schätzungen zufolge befinden sich über 90 Prozent des kulturellen Erbes Subsahara-Afrikas in westlichen Museen. Das ergab ein Bericht, den Frankreichs Präsident Emmanuel Macron 2017 bei den Kunsthistorikern Bénédicte Savoy und Felwine Sarr in Auftrag gegeben hatte. Seitdem ist die Debatte um den rechtmäßigen Erwerb und Besitz von afrikanischen Kulturgütern aus den Museen in die Öffentlichkeit gedrungen.

Auch in Deutschland nahm die Diskussion Fahrt auf und führte im April 2021 zu einer überraschenden Wende: Deutschland stimmte der Rückgabe der berühmten Benin-Bronzen an Nigeria zu. Rückgabeforderungen seitens des westafrikanischen Staates hatte es bereits Anfang des 20. Jahrhunderts gegeben.

Unsichtbare Bestände sichtbar machen

Bislang wurden die Diskussionen um Kulturgüter aus kolonialem Unrechtskontext hauptsächlich im Globalen Norden geführt. Doch auch auf dem afrikanischen Kontinent gewinnt die Debatte an Dynamik: Im März 2021 startete in Nairobis Nationalmuseum die Ausstellungsserie "Invisible Inventories", auf deutsch: "Unsichtbare Bestände".

Die Ausstellungsmacher haben sich der Frage gewidmet, wie kenianische Kulturgüter, die sich in westlichen Institutionen befinden, trotzdem dem heimischen Publikum zugänglich gemacht werden können: "Das Offensichtliche für diese Ausstellung sind die leeren Vitrinen", erklärt Jim Chuchu. Sie symbolisieren die Abwesenheit von zehn ausgewählten Objekten, die in den Sammlungen des Kölner Rautenstrauch-Joest-Museums und des Weltkulturen Museums in Frankfurt zu finden sind. "Ich dachte, dass es wirklich stark ist, die Vorstellungskraft zu befeuern", so Chuchu weiter. "Was hätten diese Objekte sein können? Was hätte man mit diesen leeren Vitrinen machen können?' Ehrlich gesagt, es ist ein bisschen traurig."

Leere Vitrinen in der Ausstellung "Invisible Invertories": Sie symbolisieren im Nairobi National Museum die Abwesenheit der Objekte.
Leere Vitrinen symbolisieren im Nairobi National Museum die Abwesenheit der kenianischen KulturgüterBild: Christine Kinyanjui/DW

Chuchu und seine Künstlerkolleginnen und -kollegen vom kenianischen Kollektiv "The Nest" sowie vom deutsch-französischen Kollektiv "The Shift" ergänzten mit aktuellen Arbeiten die abwesenden historischen Objekte. Die beiden Kolletive sind Teil des "International Inventories Programme" (IIP), für das sie sich mit dem Nationalmuseum in Nairobi, dem Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln, dem Weltkulturen Museum in Frankfurt am Main und dem Goethe-Institut zusammengetan haben. Das IIP-Team arbeitet seit zwei Jahren zusammen.

32.000 Objekte aus 30 Institutionen

Teil ihrer Arbeit war es auch, kenianische Kulturgüter in einer Datenbank zu digitalisieren. Derzeit umfasst sie (Stand: April 2021) über 32.000 Objekte aus 30 verschiedenen Institutionen, die ihre Bestandslisten zur Verfügung gestellt haben. "Wir hielten das für wichtig, denn wie soll man nach Dingen fragen, wenn man nicht weiß, wie sie aussehen und wo sie sind?", fasst Jim Chuchu das aufwendige Vorhaben zusammen und spricht damit einen wichtigen Punkt in der Restitutionsdebatte an: Damit Restitution erfolgen kann, müssen die Rückgabe-Ersuche per Verbalnote übermittelt werden - inklusive Angaben, welche Objekte zurückverlangt werden und warum.

Da aber nur ein Bruchteil der Bestände jemals ausgestellt wird und wurde, glich die Recherche der fordernden Länder oft einem Ratespiel. In Frankreich, den Niederlanden oder auch Großbritannien hat man schon vor einigen Jahren damit begonnen, die Museumsarchive zu digitalisieren. Deutschland zieht seit diesem Jahr erst langsam nach. 

Der Künstler Jim Chuchu im National Museum in Kenia.
Jim Chuchu ist Teil des Kollektivs "The Nest"Bild: Christine Kinyanjui/DW

Die neue Datenbank sei "nur ein Tropfen auf den heißen Stein", wie es Jim Chuchu formuliert, aber sie kann dazu beitragen, den Prozess auch hierzulande zu beschleunigen: Von den zehn in Deutschland angefragten Museen haben alle eingewilligt, ihre Bestandslisten zu veröffentlichen. 

Offiziell gelauncht wurde die Datenbank am 27. Mai, als die Ausstellunsgsserie weiter wanderte ins Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum (RJM): "In Nairobi erzählte die Ausstellung von Abwesenheit und Amputation", so Nanette Snoep während der Pressekonferenz zur Eröffnung. "In Köln zeigt sie die Opulenz, den Überfluss und erzählt von der Musealisierung der Dinge und von der Geschichte des Sammelns in einem kolonialen Kontext oder in einem Kontext ungleicher Machtverhältnisse", so die Museumsleiterin.

Spuren des Kolonialismus im kollektiven und individuellen Gedächtnis

Das RJM präsentiert seine gesamte kenianische Sammlung von insgesamt 82 Objekten, die das Museum zwischen 1905 und 2006 erworben hat. Bis auf wenige Ausnahmen wurden die meisten davon - größtenteils handelt es sich um Alltagsgegenstände - noch nie ausgestellt: Die bisher unsichtbaren Inventare werden nun endlich sichtbar.

Blick in Ausstellung "Invisible Inventories" im Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum.
Das RJM präsentiert erstmalig seine gesamte kenianische Sammlung von insgesamt 82 ObjektenBild: Rautenstrauch-Joest-Museum

"In dieser Ausstellung geht es tatsächlich um koloniale, symbolische Gewalt", so Snoep weiter. "Es geht um die traumatische Erfahrung, seines kulturellen Erbes beraubt zu werden, seiner Geschichte, Identität und Erinnerung. Es ist eine Amputation, es ist ein Schnitt." Für die Ausstellung haben Wissenschaftler aus Nairobi gemeinsam mit dem RJM Biografien für die gezeigten Objekte erarbeitet. Sie sollen verdeutlichen, welche Bedeutung diesen Objekte in Kenia beigemessen wird, aber auch, was sie für Mitglieder der kenianischen Diaspora in Deutschland bedeuten.

Ein Band aus Objektlabeln rund ums Museum

Jim Chuchu und Njoki Ngumi von "The Nest" haben zudem Auszüge aus der Objektdatenbank visualisiert: Ein schier endloses Band aus Objektlabeln umschlingt das RJM von außen und setzt sich ins Innere des Museums fort. Die Künstler möchten so den überwältigenden Umfang der gesammelten Daten und die Zahl von 32.000 Objekten verdeutlichen, die sich außerhalb Kenias befinden. 

Wie Kenia in Zukunft mit Fragen rund um die Restitution ihrer Kulturgüter umgehen wird, ist unklar. Bislang gibt es keinen politischen Rahmen, der einen solchen Prozess regelt. Nanette Snoep vom Rautenstrauch-Joest-Museum bekräftigt, dass sie alles dafür tun werde, Objekte aus ihrer Sammlung zurückzugeben, sollte eine Anfrage kommen. "Ich kann das natürlich nicht alleine entscheiden", so die Museumsleiterin, "aber ich würde versuchen, die Politik davon zu überzeugen, dass Restitution notwendig ist."

Kenianische Pfeife aus der Sammlung des Rautenstrauch-Joest-Museums, Köln.
Ein weiterer Alltagsgegenstand aus Kenia in einem deutschen Museum: Der Stiel dieser Pfeife ist ein BambusrohrBild: Rautenstrauch-Joest-Museum

Die Pokomo in Kenia haben kürzlich eine Mitteilung des British Museum erhalten, dass sie gerne "reden" würden. Ein großer Schritt nach vorn: Stellvertretend für sein Volk hatte Pokomo-König Haye-Makorani-a-Mungase VII bereits vor acht Jahren einen ersten Antrag auf Rückgabe der Trommel gestellt. Die "Ngadji" ist beispielhaft für die vielen afrikanischen Objekte, die in den westlichen Museen bloße Exponate sind, für die Menschen, die sie verloren haben, gehören sie indes zur ihrer Identität. 

Ausstellungsserien wie "Invisible Inventories" zeigen, dass die Auswirkungen des Kolonialismus auch über 60 Jahre nach der Unabhängigkeit vieler afrikanischer Staaten immer noch spürbar sind und tiefe Furchen im kollektiven und auch individuellen Gedächtnis der Menschen hinterlassen haben.

Christine Kinyanjui hat von Kenia aus zur Entstehung dieses Artikels beigetragen.