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Handspiel bei EURO 2024: UEFA-Kehrtwende ohne Folgen?

25. September 2024

Es war der Aufreger der Fußball-EM 2024: Spaniens Marc Cucurella blockt im Spiel gegen Deutschland den Ball mit der Hand ab, doch der Elfmeterpfiff bleibt aus. Eine Fehlentscheidung, räumt die UEFA nun ein.

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Spanien Abwehrspieler Marc Cucurella (2.v.r.) blockt im EM-Viertelfinale gegen Deutschland den Schuss von Jamals Musiala (l.) mit der Hand
Absicht oder nicht? Spanien Abwehrspieler Marc Cucurella (2.v.r.) blockt den Schuss von Jamals Musiala (l.) mit der HandBild: Tom Weller/dpa/picture alliance

Um welche Spielszene geht es?

Verlängerung im Viertelfinale der Fußball-Europameisterschaft zwischen Gastgeber Deutschland und Spanien. Es läuft die 106. Minute, es steht 1:1. Jamala Musiala schießt im Strafraum auf das spanische Tor, Abwehrspieler Marc Cucurella blockt den Schuss mit der Hand ab. Der britische Schiedsrichter Anthony Taylor lässt das Spiel weiterlaufen. Auch Videoassistent Stuart Attwell greift nicht ein. In der 119. Minute, der vorletzten Minute der Nachspielzeit, erzielt Mikel Merino schließlich per Kopf den Siegtreffer zum 2:1 für Spanien. Deutschland scheidet bei der Heim-WM aus, Spanien kommt weiter und holt sich später den Europameistertitel.

Wie war das Echo auf die umstrittene Schiedsrichter-Entscheidung?

"Ich will nicht rumjammern, aber die Bühne nutzen, um dafür zu werben, die Regel im Sinne des Fußballs anzupassen", sagt Bundestrainer Julian Nagelsmann nach dem Abpfiff im ZDF. "Es wäre schön, wenn wir bewerten würden, was mit dem Ball passiert. Wenn Jamal Musiala den Ball in die Stuttgarter Innenstadt schießt und Cucurella berührt ihn, würde ich nie einen Elfmeter haben wollen, aber der Ball kommt aufs Tor, und er stoppt ihn klar mit der Hand. Da muss es eine andere Bewertungsgrundlage sein."

Toni Kroos und Ilkay Gündogan reden im EM-Viertelfinale auf Schiedsrichter Anthony Taylor ein
Einige Entscheidungen von Schiedrichter Anthony Taylor (3.v.l.) im EM-Viertelfinale sorgten für Unmut im DFB-Team Bild: Antonio Calanni/AP Photo/picture alliance

Die Schiedsrichter-Experten sind sich zunächst uneins. Die einen sprechen von einer Fehlentscheidung, die anderen von Interpretationsspielraum. Der Italiener Roberto Rosetti, Schiedsrichter-Chef der Europäischen Fußball-Union (UEFA), hat bei einer Veranstaltung des Verbands vor der EM eine vergleichbare Szene aus dem Champions-League-Spiel RB Leipzig gegen Manchester City vorgeführt und gesagt: "Das ist niemals ein Strafstoß. Der Arm ist nahe am Körper, der Spieler versucht, den Ballkontakt zu vermeiden."

Was sagt die Regel?

Im Regelbuch des International Football Association Boards (IFAB), der obersten Regelbehörde im Fußball, heißt es: "Für die Beurteilung von Handspielvergehen gilt, dass die Grenze zwischen Schulter und Arm (bei angelegtem Arm) unten an der Achselhöhle verläuft. Nicht jede Ballberührung eines Spielers mit der Hand/dem Arm ist ein Vergehen."

Ein strafwürdiges Vergehen liege dann vor, wenn Arm oder Hand absichtlich zum Ball gingen, wenn der Spieler seinen Körper "aufgrund der Hand-/Armhaltung unnatürlich vergrößert" oder wenn er - egal ob versehentlich oder absichtlich - den Ball mit Arm oder Hand ins gegnerische Tor befördere.

Warum bewertet die UEFA die Szene nun anders?

"In diesem Fall stoppt ein Verteidiger den Torschuss mit seinem Arm, der nicht sehr nah am Körper liegt, wodurch dieser größer wird, weshalb ein Strafstoß hätte gegeben werden müssen", heißt es in einem UEFA-Bericht, der nun mehreren Medien vorliegt. Der Bericht ist an die Schiedsrichter und Schiedsrichterinnen des europäischen Verbands adressiert und soll dazu beitragen, dass die Referees bei strittigen Situationen einheitlich entscheiden.

"Gemäß den neuesten UEFA-Richtlinien sollte der Hand-Ballkontakt, der einen Torschuss stoppt, härter bestraft werden und in den meisten Fällen ein Strafstoß zugesprochen werden, es sei denn, der Arm des Verteidigers befindet sich sehr nahe am Körper oder am Körper", erklärt die UEFA.

Welche praktischen Konsequenzen hat die UEFA-Kehrtwende?

Keine. Bereits am Tag des EM-Viertelfinals startet ein deutscher Fußballfan auf dem Portal "change.org" eine Petition, um wegen der vermeintlichen Fehlentscheidung von Schiedsrichter Taylor eine Wiederholung der Partie zu erreichen. Mehr als 450.000 Unterschriften kommen zusammen. Ähnliche Petitionen hat es auch vorher schon in vergleichbaren Fällen gegeben - ohne Folgen. Denn die sogenannte Tatsachenentscheidung hat im Fußball höchste Priorität.

"Die Entscheidungen des Schiedsrichters zu Tatsachen im Zusammenhang mit dem Spiel sind endgültig. Dazu gehören auch die Entscheidung auf 'Tor' oder 'kein Tor' und das Ergebnis des Spiels", heißt es in Regel 5 des IFAB. "Die Entscheidungen des Schiedsrichters und aller anderen Spieloffiziellen sind stets zu respektieren."

Äußerst seltene Ausnahme: ein schwerwiegender Regelverstoß des Schiedsrichterteams. So entschied das Sportgericht des Deutschen Fußball-Bunds (DFB) kürzlich, dass die Frauenbundesliga-Partie zwischen dem SC Freiburg und Bayer 04 Leverkusen (2:3) wiederholt werden muss. Die Schiedsrichterin hatte den Strafstoß, der kurz vor Schluss zum Siegtreffer der Leverkusenerinnen geführt hatte, regelwidrig wiederholen lassen. 

Ist mit einer durchgreifenden Änderung der Handspiel-Regel zu rechnen?

Schon 1863 wird in den ersten offiziellen Fußball-Regeln im Mutterland England das Handspiel untersagt: "Kein Spieler darf den Ball während des Spiels unter irgendeinem Vorwand mit den Händen vom Boden nehmen." Bis 1871, als feste Torleute beim Fußball eingeführt werden, ist aber noch der sogenannte "Fair Catch" erlaubt, das Fangen des Balles aus der Luft. 1886 wird das IFAB gegründet. 1891 beschließt das Gremium, absichtliches Handspiel im Strafraum mit einem Elfmeter zu bestrafen.

Doch die IFAB-Regeln sind nicht in Stein gemeißelt. In regelmäßigen Abständen beraten die acht obersten Regelhüter - vier FIFA-Vertreter sowie je ein Abgesandter der Fußball-Verbände von England, Nordirland, Schottland und Wales - über mögliche Reformen. 

So führte das IFAB 2019 das Kriterium der "unnatürlichen Armbewegung" ein: Ein Ballkontakt mit Hand oder Arm oberhalb der Schulterhöhe wird grundsätzlich als Handspiel gewertet. Diego Maradonas berühmtes Handspiel im WM-Viertelfinale 1986 gegen England war danach eindeutig regelwidrig. Der einstige argentinische Superstar, der 2020 starb, hatte nach dem Spiel von der "Hand Gottes" gesprochen.

Die "Hand Gottes" - Diego Maradonas berühmtes Handspiel im WM-Viertelfinale gegen England
Die "Hand Gottes" - Diego Maradonas berühmtes Handspiel im WM-Viertelfinale gegen EnglandBild: Joe Pepler/empics/dpa/picture alliance

Zur aktuellen Saison 2024/25 modifizierte das IFAB, wie gewisse Handspiele geahndet werden. Verhindert ein Spieler im eigenen Strafraum nicht mit einem vorsätzlichen, sondern einem unabsichtlichem Handspiel ein Tor, sieht er nicht mehr die Rote, sondern nur noch die Gelbe Karte.

Der Anteil der Handelfmeter an den in der Bundesliga gegebenen Strafstößen ist nach Angaben der Deutschen Fußball Liga (DFL) seit der Einführung der Videoassistenten gestiegen. In der Saison 2023/24 waren 22 von 101 Strafstößen Handelfmeter. Das macht einen Anteil von knapp 22 Prozent.

DW Kommentarbild Stefan Nestler
Stefan Nestler Redakteur und Reporter