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Wie ein Festival ein ganzes Land vereint

Medana Weident
19. September 2019

Das George Enescu Festival in Rumänien ist ein wahrer Lichtblick in einem politisch und gesellschaftlich extrem zerrissenen Land. Zum ersten Mal kommt das Klassik-Festival nun auch nach Berlin in die Philharmonie.

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Rumänien Bukarest | Rumänisches Athenäum
Das 1888 erbaute Bukarester Athenäum ist ein beliebter Konzertsaal und Wahrzeichen der rumänischen HauptstadtBild: DW/M. Weident-Crummenerl

"Die heutige Jugend in Rumänien besitzt keine Vorbilder mehr. Während des Kommunismus hat das Ceauşescu-Regime sie zerstört und durch falsche ersetzt. Seit der Wende irren wir immer noch herum auf der Suche nach Leitbildern", beschreibt Anita Sterea, Vorsitzende des Vereins "Es geht uns was an" (rumänisch "Nouă ne pasă"), die aktuelle Situation. Die rumänische Gesellschaft leidet unter der allgegenwärtigen Korruption, unter der Massenauswanderung vor allem junger Menschen, sie ist gespalten und traumatisiert. Politische Grabenkämpfe verhindern, dass die großen, vor allem wirtschaftlichen Probleme des Landes angegangen werden. All das wird noch deutlicher kurz vor der Präsidentschaftswahl im November. Nicht zufällig lautet das Motto des diesjährigen George Enescu Festivals "Die Welt in Harmonie" - ein Ideal gewiss, aber auch eine Aufforderung zu mehr Verständnis und Respekt füreinander, zu mehr Miteinander, zu mehr Normalität. Das Enescu-Festival wird zu einem Fanal der verbindenden Kraft der Kultur.

Anita Sterea organisiert während des Festivals Führungen durch die rumänische Hauptstadt. "Auf Enescus Spuren" ist nur eine davon. Führungen gibt es aber auch das ganze Jahr über sowie zahlreiche Projekte für Schüler und Jugendliche. Der rumänische Komponist George Enescu sei "ein extrem inspirierendes Vorbild", betont die junge promovierte Historikerin, "und zwar wegen seiner Bescheidenheit, seiner Nähe zu Menschen aus allen sozialen Schichten, seiner Lebensfreude, seines Respektes den anderen gegenüber".

Rumänien Bukarest | Anita Sterea, rumänische Historikerin
Die engagierte Historikerin Anita Sterea leitet den Bukarester Verein "Es geht uns was an"Bild: DW/M. Weident-Crummenerl

Obwohl er sich seiner Genialität bewusst war, obwohl er auf den größten Konzertbühnen der Welt gefeiert wurde, obwohl er der königlichen Familie nahe stand, so Sterea, habe Enescu nie seine einfache Herkunft vergessen. Enescu war eine herausragende Musikerpersönlichkeit seiner Zeit. 1881 in einem Dorf im Nordosten Rumäniens geboren, hat das "Wunderkind" Enescu seine Studien zunächst in Wien begonnen und anschließend in Paris vollendet. Sein berühmtester Schüler war Yehudi Menuhin, mit dem er in tiefer Freundschaft verbunden war.

Als Violinvirtuose und bedeutender Dirigent tourte er durch die Metropolen der Welt. Zeitzeugen bestätigten, dass er auch ein fantastischer Pianist und Cellist war. Zudem ein außergewöhnlicher Komponist - zum Teil vielleicht zu modern für einige seiner Zeitgenossen. Man sagt, er hätte nur ein einziges Mal einen Blick auf eine umfassende Partitur werfen müssen, um diese auswendig spielen zu können. Voller Bewunderung nannte ihn der Cellist Pablo Casals "das größte musikalische Phänomen seit Mozart".

Ein ganzes Land im Festival-Fieber

Die 24. Ausgabe des George Enescu Festivals, das bedeutendste alle zwei Jahre stattfindende Kulturevent Rumäniens, vereint bis zum 22. September mehr als 2500 herausragende Künstler aus 50 Ländern. In Bukarest und in zehn anderen Städten Rumäniens sowie in fünf weiteren Ländern (Deutschland, Italien, Kanada, Belgien und der Republik Moldau) finden etwa hundert Konzerte statt. Es kommen Solisten und Orchester nach Rumänien, die man sonst nie zu hören bekommen würde, da die Eintrittspreise außerhalb des subventionierten Festivals unbezahlbar wären. Es werden musikalische Werke in Premieren gezeigt, wie dieses Jahr zum Beispiel Richard Strauss' Oper "Die Frau ohne Schatten". Es werden rumänische Musiker und Komponisten gefördert sowie Künstler des 21. Jahrhunderts. 

Die legendäre russische Pianistin Elisabeth Leonskaja ist ein beliebter und häufiger Gast des Festivals. Sie spielt auch sonst oft in Rumänien. Ihre erfolgreiche Karriere fing nach dem Gewinn des ersten Preises beim internationalen Enescu-Wettbewerb 1964 an, verriet sie im DW-Gespräch vor ihrem Auftritt in Hermannstadt. Wenn sie darüber spricht, kommen schöne, alte Erinnerungen und Emotionen hoch. Sie ist begeistert vom hiesigen "warmherzigen, offenen und sehr neugierigen Publikum", wobei das Festival für die Menschen in Rumänien "die notwendige Prise Sauerstoff ist, die bis zur nächsten Ausgabe reichen soll".  Enescus Musik erklingt demnächst in Berlin

Pianistin Elisabeth Leonskaja
Die russische Pianistin Elisabeth Leonskaja im DW-Gespräch vor ihrem Auftritt in HermannstadtBild: DW/M. Weident-Crummenerl

"Meine Liebe zu Enescu - als Musiker sowie als Mensch - hat mich dazu bewogen, die künstlerische Leitung des Enescu-Festivals zu übernehmen", betont Vladimir Jurowski im DW-Interview, ein vielbeschäftigter Musiker, unter anderem Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin (RSB), des London Philharmonic Orchestra und designierter Intendant der Bayerischen Staatsoper München (ab 2021). Zusammen mit Mihai Constantinescu, dem erfolgreichen langjährigen Geschäftsführer des Festivals, und Maestro Zubin Mehta als Ehrenpräsident, plant er bereits die 25. Jubiläumsausgabe für 2021. Jurowskis Interpretationen haben neue Akzente in der Deutung der Enescu-Partituren gesetzt. "Unvergesslich bleibt", so der amerikanische Dirigent Lawrence Foster, ein großer Freund des Festivals, "seine konzertante 'Oedipe'-Aufführung mit den Londoner Philharmonikern". Die Oper "Oedipe", die 1936 in Paris uraufgeführt wurde, gilt als Meisterwerk George Enescus. Am 22. September wird Vladimir Jurowski mit seinem RSB in der Berliner Philharmonie, auch im Rahmen des rumänischen Festivals, ein anderes Meisterwerk Enescus, die 3. Symphonie, dem deutschen Publikum vorstellen.

Kolumne Berlin24/7 Vladimir Jurowsk Dirigent beim RSB
Vladimir Jurowski, Chefdirigent des RSB, ist seit 2017 künstlerischer Leiter des Enescu-Festivals in BukarestBild: RSB

 "Enescu wurde leider zu Unrecht als Komponist unterschätzt", bedauert Jurowski. Seine Werke seien sehr komplex, gar nicht einfach zu deuten und auch nicht zu spielen. Für ihn sei Enescu sicherlich ein Komponist des 21. Jahrhunderts. "So wie Mahlers Zeit erst in den 1960er Jahren gekommen ist, kommt Enescus Zeit erst heute." Im Augenblick erfährt das Werk des rumänischen Komponisten eine wahre Renaissance. Und dazu hat Jurowski wesentlich beigetragen. Enescus Musik erklingt in Berlin auch am 26. September. Im Konzerthaus präsentiert der junge rumänische Dirigent Gabriel Bebeşelea am Pult des Rundfunk-Sinfonieorchesters das Frühwerk "Strigoii" (Die Geister), ein Oratorium basierend auf einem Gedicht des rumänischen Nationaldichters Mihai Eminescu.

Lawrence Foster
Der amerikanische Dirigent mit rumänischen Wurzeln, Lawrence Foster, hat sämtliche Werke Enescus aufgenommenBild: DW/M. Weident-Crummenerl

Mit Kultur die Trumps und Orbans unserer Zeit überstehen

Auch einem anderen bedeutenden Musiker verdankt das Enescu-Festival sehr viel von dem, was es heute geworden ist: dem US-amerikanischen Dirigenten Lawrence Foster, der zeitweise auch die künstlerische Leitung des Festivals innehatte. Gegenüber der DW betont Foster, wie wichtig es sei, solche Kulturphänomene am Leben zu erhalten - gerade heute. "Wir brauchen die Kultur, um manche führende Politiker der Zeit zu überleben." Dennoch zeigt sich Foster zuversichtlich und deutet das auch als Zeichen für Rumänien: "Wir werden diese Trumps, diese Orbans und wie sie alle heißen überleben."