Charkiw: Verbarrikadierte Fenster und Nerven aus Stahl
11. Juni 2024Das erste, was einem in Charkiw ins Auge fällt, sind von ukrainischen Flaggen gesäumte Straßen. Hier gibt es mehr davon als in Kiew. Autos fahren umher, und alte, verstaubte Straßenbahnen klappern auf Schienen vorbei. Das Leben in der zweitgrößten Stadt der UkraineUkraine scheint alltäglich zu sein.
Doch dieser Eindruck währt nicht lange. Schnell wird einem durch Kontrollpunkte, aufgestellte Panzerigel und zerstörte Häuser bewusst, dass Charkiw eine Stadt an der Front ist in Russlands Krieg gegen die Ukraine. Man sieht Hunderte beschädigte Wohngebäude, Industrieanlagen und Geschäftshäuser.
Beschuss "nach Plan"
Charkiw ist im Juni 2024 eine offene Wunde, die Russland fast täglich mit Raketen, Drohnen und Bomben angreift. Es ist eine Stadt voller verbarrikadierter Fenster. Überall gibt es Zerstörungen, sowohl im historischen Zentrum als auch in Wohngebieten am Stadtrand. An den zentralen Straßen stehen Häuser, deren obere Etagen teilweise oder ganz zerstört sind. In einem vierstöckigen Gebäude klafft von oben bis unten ein Loch, die Türen zu den Wohnungen sind zu sehen und die Wasserrohre ragen aus den Wänden.
An einem schwer beschädigten und ausgebrannten Haus in einer nahegelegenen Straße erinnert nur noch ein Schild an das Leben vor dem Krieg, auf dem einladend steht: "Kommt auf einen Kaffee herein."
Die meisten Zerstörungen stammen aus dem ersten Kriegsjahr. Damals war die russische Armee in die Außenbezirke von Charkiw vorgedrungen, musste sich jedoch zurückziehen. An jene Tage im Februar und März 2022 erinnert unter anderem eine zerstörte Schule. Damals waren dort russische Spezialeinheiten stationiert, die mit schwerem Gerät von dort vertrieben wurden. Von dem Gebäude sind nur noch Ruinen geblieben. Über dem einstigen Eingang zur Schule steht noch auf Deutsch und Ukrainisch "Erfolg im Lernen, Erfolg im Leben" geschrieben. In Charkiw gibt es viele zerstörte Schulen. In dieser konnte man Deutsch lernen.
Beschuss ab Mitternacht
Die meisten Geschäfte, Cafés und Bars sind geöffnet, aber es gibt nur wenige Kunden und Gäste. Auf vielen Gebäuden im Zentrum sind Schilder "Zu verkaufen" oder "Zu vermieten" zu sehen. Abends leert sich die Stadt schnell, die U-Bahn verkehrt bis 21.30 Uhr und die Ausgangssperre beginnt um 23.00 Uhr, eine Stunde früher als in der Hauptstadt Kiew. Der russische Beschuss beginnt meist gegen Mitternacht. Die Bewohner von Charkiw beklagen, dass die Stadt systematisch und sozusagen "nach Plan" beschossen wird.
Seit Anfang Juni hat der Beschuss aber merklich abgenommen. Das führen viele darauf zurück, dass die USA und andere westliche Partner der Ukraine Kiew nun die Erlaubnis gegeben haben, die von ihnen gelieferten Waffen auch gegen militärische Ziele nahe der Grenze auf russischem Boden einzusetzen. Laut westlichen Medien hat die Ukraine dies bereits in der Region Belgorod getan und dabei russische Raketensysteme des Typs S-300 zerstört.
"Friedhof russischer Raketen"
Mit solchen Systemen werden immer wieder Raketen abgefeuert und ihre Überreste sind auf dem sogenannten "Friedhof russischer Raketen" zu sehen. Es ist der größte in der Ukraine und inzwischen weltweit bekannt. Dort finden sich Teile von Smertschs, Uragans, S-300-Systemen, Iskanders und anderen Waffen, die Russland auf Charkiw und die Region abfeuert.
Der mit Gras bewachsene "Friedhof" ist bewacht und der Zugang dorthin ist nur in Begleitung eines Vertreters der regionalen Staatsanwaltschaft gestattet. Die dort schon seit Beginn der russischen Invasion gesammelten Raketenteile sollen in künftigen Gerichtsprozessen in der Ukraine und im Ausland als Beweismittel für Kriegsverbrechen der Russischen Föderation dienen. Mittlerweile sind es rund 1000 Teile.
"Alle Raketen, die hier sind, einschließlich Marschflugkörpern, kosten Millionen von Dollar", sagt Dmytro Tschubenko, Vertreter der Staatsanwaltschaft Charkiw im Gespräch mit der DW. Ihm zufolge tragen Markierungen und Abkürzungen auf noch erhaltenen Raketengehäusen und Innenteilen dazu bei, die Beteiligung Russlands an deren Herstellung und Einsatz nachzuweisen. Dort gebe es verschlüsselte Informationen bezüglich der Modelle, der herstellenden Betriebe und der Militäreinheiten, aus denen sie stammen, so Tschubenko.
Warum bleiben Menschen in Charkiw?
Stromausfälle aufgrund der von Russland nahezu völlig zerstörten Energieinfrastruktur in Charkiw und der Region führen dazu, dass die Menschen überall mit Diesel betriebene Stromgeneratoren einschalten. Auf den Straßen sind wenige Menschen zu sehen, darunter einige Kinder. Es gibt mehr Studenten, die sich offenbar auf die Einschreibung vorbereiten. Und doch ist es kaum zu glauben, dass in der Stadt heute mehr als eine Million Menschen leben - Einheimische und Binnenvertriebene aus dem Kriegsgebiet.
In der Stadt mangelt es an Arbeitskräften, was vor allem daran liegt, dass viele Männer an der Front sind. Am Eingang zur U-Bahn hängt ein großes Plakat: "Charkiw braucht Fahrer für den öffentlichen Nahverkehr." Künftigen Mitarbeitern wird unter anderem versprochen, nicht in die Armee eingezogen zu werden, obwohl die Realität gezeigt hat, dass das keine hundertprozentige Versicherung ist. Denn einige Mitarbeiter mussten trotzdem zu den Streitkräfte der Ukraine.
Die Einwohner von Charkiw sagen, sie hätten sich an die Luftangriffe, den Beschuss und die tägliche Gefahr für ihr Leben gewöhnt. Nur wenige glauben an den Erfolg der jüngsten russischen Offensive in der Region, bei der die russische Armee an zwei Stellen entlang der Grenze kleinere Gebietsgewinne machen konnte. Doch viele geben auch zu, dass die Verteidigungslinien der ukrainischen Armee darauf nicht vorbereitet waren.
Manche Menschen bleiben in Charkiw, weil sie ihre betagten Eltern nicht zurücklassen wollen, manche wollen ihre Wohnung oder Eigenheim samt über Jahre erworbenen Hausrat nicht verlassen und andere wollen weiterhin vor Ort der ukrainischen Armee helfen.
Ein 25-jähriger Mann erzählt, er sei vor Kurzem beruflich von Kiew nach Charkiw gezogen. Es gefalle ihm hier besser als in der Hauptstadt: "Ich mag die Menschen in Charkiw, sie sind etwas Besonderes." Gleichzeitig sagt er, dass er jeden Morgen darüber nachdenke, ob alle seine Kollegen zur Arbeit erscheinen würden. Auch in den vergangenen Tagen gab es in Charkiw mehrere russische Raketenangriffe mit zahlreichen Todesopfern, unter anderem in einem Baumarkt und einer Druckerei. Die Begleiterin des Mannes sagt, sie habe Charkiw im ersten Kriegsjahr verlassen, sei aber zurückgekehrt. Aus ihrer Sicht ist derzeit das größte Problem der Menschen die psychische Ermüdung aufgrund des Krieges.
Geist des Widerstands in Charkiw
Viele in Charkiw geben zu, dass in der Stadt Angst herrscht. Aber ihnen zufolge gibt es auch einen Geist des Widerstands, der die Menschen in der Stadt hält. Eine Verkäuferin in einem Süßwarenladen zeigt auf ein zerstörtes Gebäude in einer nahegelegenen Straße. "Wir schließen um 15.30 Uhr und vor ein paar Tagen ist dort eine Rakete um 16.00 Uhr eingeschlagen", sagt die Frau. Es kommt einem vor, als hätten die Menschen inzwischen Nerven aus Stahl.
Der Geist des Widerstands von Charkiw kommt durch die gepflegten Parks und sauberen Plätze zum Ausdruck. Man erkennt ihn auch an den kunstvoll bemalten Spanplatten in den Fenstern der Häuser und an den Schildern, auf denen "Wir arbeiten!" steht. Die Menschen zeigen, dass sie ihre Stadt nicht aufgeben.
"Wenn es einen Einschlag gibt, bücken wir uns, schütteln den Staub ab und machen weiter", sagt die Verkäuferin. Sie bietet unter anderem Pralinen an, auf deren Schachtel, mit einer Stadtansicht und ukrainischer blau-gelber Flagge verziert, die Worte "Charkiw - Stadt der Helden" stehen.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk