Wowtschansk: Evakuierung unter russischem Beschuss
21. Mai 2024Das Auto von Polizist Wladyslaw Jefarow weist zahlreiche Spuren von Beschuss auf. Erst vor kurzem hatte ein russischer Scharfschütze das Feuer auf ihn und seinen Kollegen Jurij Jaremtschuk eröffnet.
Die beiden Polizisten waren unterwegs nach Wowtschansk, um eine alleinstehende ältere Frau zu evakuieren. Dass sie noch leben, verdanken sie einem gepanzerten Fahrzeug ihrer amerikanischen Partner, sagt Jefarow, der zugleich Ermittlungen in dem Gebiet leitet. Es sei ihnen allerdings nicht gelungen, die Frau abzuholen, bedauert er.
Jefarow und Jaremtschuk evakuieren seit fast zwei Wochen Bewohner aus dem Norden der Region Charkiw. Denn in der Nacht zum 10. Mai nahm die russische Armee ihre Offensive auf die Grenzgebiete der Ukraine wieder auf und hat nach Angaben aus Kiew mehrere Dörfer besetzt.
Es sei gefährlich, in Wowtschansk zu bleiben, weil es dort Kämpfe gebe, sagt Jefarow. Die Russen würden Wohngebiete mit Raketenwerfern und Artillerie beschießen.
Wir fahren seinem Fahrzeug hinterher. Kurz vor der Stadt sollten wir so viel Gas wie möglich geben, da dort, so Jefarow, das russische Militär aus Panzerabwehrlenkwaffen feuere.
"Ich werde nicht mehr nach Hause zurückkehren"
Im südlichen Teil der Stadt Wowtschansk, wo es derzeit keine Kämpfe gibt, lebte bislang Wolodymyr. Der Weg zu dem älteren Mann führt durch mehrere Straßen mit zerstörten Häusern. Plötzlich müssen sich auf Befehl der Polizei alle auf den Boden legen, da in der Nähe eine Bombe explodiert ist.
Wolodymyr hat es nicht eilig. Er steht nur in Shorts und T-Shirt da, holt Anzüge und Hemden aus dem Schrank und packt sie in eine Tasche. Auf die Bitte der Polizei, dies schneller zu tun, sagt er nur: "Gleich, gleich! Ich muss mich nur noch umziehen." In seinem Haus sind alle Fenster zerborsten, als das Nachbarhaus von einem Geschoss getroffen wurde.
Wladyslaw Jefarow seufzt und trägt die bereits gepackten Taschen zum Auto. Dabei sieht er einen struppigen Hund im Hof herumlaufen. Als er eine Leine findet, legt er sie ihm an und sagt: "Du kommst auch mit."
Wolodymyr schaut sich währenddessen noch einmal auf dem Hof um und wirft einen Blick in die Scheune, als wolle er sich alles genau merken. Begleitet von Explosionsgeräuschen fährt der Transporter der Polizei schließlich in Richtung Charkiw ab.
Auf halbem Weg wird Wolodymyr von seiner Tochter Maryna, einer Polizistin, in Empfang genommen. Sie umarmt ihren Vater fest. Es gibt Freudentränen, aber auch Vorwürfe.
"Warum hast du so lange mit der Evakuierung gewartet?", fragt sie ihren Vater. Als Maryna die vielen Taschen sieht, schüttelt sie missbillgend den Kopf.
"Mir ist schwer ums Herz", sagt Wolodymyr und umarmt seinen Hund. Und als ob er sich bei seiner Tochter rechtfertigen wollte, fügt er hinzu: "Ich bin 66 Jahre alt und werde nicht mehr dorthin zurückkehren." "Es ist schwer, das eigene Zuhause zu verlassen", erwidert Maryna und versucht, ihren Vater mit einem Lächeln zu trösten.
Erst Besatzung, dann Beschuss
Wowtschansk, das nur zehn Kilometer von der russischen Grenze entfernt ist, wurde schon am ersten Tag der großangelegten Invasion der russischen Armee besetzt. Es war der Morgen des 24. Februar 2022.
Damals sei eine Evakuierung der Bevölkerung unmöglich gewesen, erzählt Wladyslaw Jefarow. Mit Kollegen habe er es gerade noch geschafft, Waffen und Dokumente aus der besetzten Stadt herauszubringen. Doch einige Kollegen hätten sich schnell zu einer Kollaboration mit den Russen bereit erklärt.
Erst nach zwei Monaten erlaubten die Besatzer den Menschen aus Wowtschansk, in das von Kiew kontrollierte Staatsgebiet der Ukraine zu gehen. Wolodymyr und Maryna jedoch blieben. Auch ihr boten die Russen eine Zusammenarbeit an, doch die Polizistin lehnte ab.
Die Lage änderte sich, als Wowtschansk im Herbst 2022 von ukrainischen Streitkräften befreit wurde. Seitdem beschießen russische Truppen die Stadt immer wieder.
Maryna zog nach Charkiw und wurde dort wieder in den Polizeidienst aufgenommen. Und Wolodymyr gewöhnte sich allmählich an das Leben unter Beschuss. Von den einst 17.000 Einwohnern blieben damals nur noch rund 3500 in Wowtschansk. Mittlerweile haben nach Angaben der Polizei fast alle Einwohner die Stadt verlassen, nur noch ungefähr 200 wollen nicht weg.
Mehrere Einwohner der Stadt berichten, sie seien von russischen Soldaten, die in den nördlichen Teil der Stadt eingedrungen waren, gewaltsam in Kellern festgehalten worden. Als die Russen schließlich in eine andere Straße gezogen seien, hätten sie die Gelegenheit genutzt und seien zur Sammelstelle geflohen, um aus der Stadt herausgebracht zu werden.
Einer Frau hätten die Besatzer befohlen, verwundete Russen zu versorgen. Und ein Mann aus Wowtschansk, dem ein Finger an der Hand fehlt, sagt, ein russischer Soldat habe auf ihn geschossen, als er versucht habe, in sein Haus zu gelangen.
In den ersten Tagen der Evakuierung sind, wie die Menschen berichten, zwei freiwillige Helfer verschwunden. Manche sagen, sie seien von russischen Militärs erschossen worden.
Flucht unter Beschuss und Drohnenangriffen
Die geretteten Menschen werden in ein Dorf gebracht, das auf halber Strecke auf dem Weg nach Charkiw liegt. Die meisten wissen nicht, wie und wohin es für sie weitergeht.
"Wir haben sechs Tage im Keller verbracht", sagt Daria aus Wowtschansk und fügt hinzu: "In unserer Straße steht kein Haus mehr. Alles wurde beschossen, alles brannte. In meinem Garten lagen Blindgänger."
Die Polizei konnte die Straße, in der Daria lebte, nicht erreichen. Deshalb machte sich ihre Familie selbst auf zur Evakuierungsstelle. "Wir sind an den Stadtrand von Wowtschansk geflohen, unter Drohnenangriffen und Beschuss, vorbei an einem zerstörten Schützenpanzer", berichtet Daria mit zitternder Stimme.
Sie ist traurig, dass sie ihren Schäferhund nicht mitnehmen konnte. Die meisten Evakuierten bringen ihre Haustiere mit. Ein Mann versteckt ein weißes Kätzchen unter seinem Pullover, und aus der Tasche miaut eine Katze.
"In den ersten Tagen der Evakuierung weigerten sich die Leute noch zu gehen, aber dann riefen sie an und wollten abgeholt werden", erzählt Polizist Jefarow. Mit jedem Tag verschlechtert sich die Lage in Wowtschansk und die ukrainische Polizei kann inzwischen nicht mehr tiefer in die Stadt vordringen. Daher müssen die Bewohner die Kilometer zur Sammelstelle selbst zu Fuß zurücklegen. "Die Leute sind verzweifelt", berichtet Jefarow.
Raketenreste auf der Straße, Enten zwischen Häusertrümmern
Der nächste Anruf, den die Polizisten erhalten, kommt von einem Mann aus dem Dorf Bilyj Kolodjas, südlich von Wowtschansk. Der Ort kann nur über einen holprigen Feldweg erreicht werden. Doch wie sich herausstellt, will der Mann doch nicht evakuiert werden. Wladyslaw Jefarow versteckt seine Wut und geht zum nächsten Haus. Dort kommt ein älterer Mann auf ihn zu - auch er will nicht weg. "Wir haben hier noch keine große Angst", sagt er.
Wieder klingelt das Telefon. Zwei Frauen wollen aus dem Dorf Sosnowyj Bir abgeholt werden. Ihre Häuser wurden von einer Rakete getroffen. Doch vor Ort trifft die Polizei sie nicht mehr an. Nur Enten laufen zwischen den Trümmern der Häuser herum, aus denen Rauch aufsteigt.
Auf der Straße findet die Polizei Überreste der Rakete und lädt sie in ihr Fahrzeug. "Auch das gehört zu unserer Arbeit", sagt Jefarow und unterstreicht: "Jeder Beschuss stellt ein Verbrechen dar. Die Waffenreste sind materielle Beweise, mit denen wir die Schuld der Besatzer nachweisen können."
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk