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"Der neue Mensch": Russische Revolutionsfilme

Jochen Kürten
7. November 2017

"Der neue Mensch" sollte erschaffen werden: Der wirtschaftliche und politische Umbruch der russischen Gesellschaft wurde ab 1917 von einem kulturellen Wandel begleitet. Eine besondere Rolle spielte dabei der Film.

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Filmstill aus "Der neue Mensch" (absolut Medien GmbH
Aufruf zum "Neuen Menschen": Aufbruch und Alltag im revolutionären RusslandBild: absolut Medien GmbH

"Kneipe, Kirche und Kino" heißt ein kurzer Text Leo Trotzkis aus dem Jahre 1923. Darin drückt der russische Revolutionär sein Ansinnen aus, dass sich der Film mit dem sozialistischen Staat verbünden sollte, um gegen Kirche und Kneipengang vorzugehen. Das Kino als Alternative zum Alkohol, der Film als Gegengewicht zum religiösen Glauben - die Ideale der frühen russischen Revolutionäre waren wahrlich kühn!

Eine kurze Zeitspanne avantgardistischer Kino-Träume

Für ein paar Jahre erreichte das russische Kino ja auch tatsächlich eine enorme künstlerische Kraft und Bandbreite. Die Ideologen der Revolution von 1917 hatten schnell erkannt, dass der gesellschaftliche Umbruch kulturell und künstlerisch unterfüttert werden muss. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, er will beschäftigt und natürlich vorher auch erzogen sein! Für ein paar Jahre fügte sich das und brachte Meisterliches hervor. Bis Stalin die Bühne betrat und der künstlerischen Avantgarde ein jähes Ende gesetzt wurde.

Filmstill von "Der neue Mensch" aus dem Film "Das Leben in der Hand" (absolut Medien GmbH).
Die Erziehung zum neuen Menschen begann früh: Szene aus dem Film "Das Leben in der Hand" von 1931Bild: absolut Medien GmbH

Wie in vielen anderen ideologisch gesteuerten politischen System zuvor und danach öffnete sich auch für die russischen Filmschaffenden vor allem in den 1920er Jahren ein Zeitfenster, in dem Kunst über Propaganda und Experimentierfreude über starre Ideologie triumphieren sollte. Acht Filme aus diesem Zeitraum stellen der Suhrkamp Verlag gemeinsam mit dem DVD-Anbieter "absolut medien" jetzt in einer vorzüglich zusammengestellten Edition vor.

Eisenstein und Co. zeigten Bilder der Revolution, andere den Alltag

"Der neue Mensch - Aufbruch und Alltag im revolutionären Russland" heißt die Edition. Enthalten sind nicht die weltbekannten Revolutionsfilme von Regisseuren wie Sergej Eisenstein ("Panzerkreuzer Potemkin"), Lew Kuleschow oder Vsevolod Pudovkin, sondern hierzulande weniger bekannte Werke. Allen ist gemeinsam: Ihnen ging es nicht um die Abbildung der Geschehnisse im Revolutionsjahr 1917 und sie waren noch nicht geprägt von der späteren stalinistischen Propaganda.

Die Film-Edition "Der neue Mensch - Aufbruch und Alltag im revolutionären Russland"
Die Film-Edition "Der neue Mensch - Aufbruch und Alltag im revolutionären Russland"

Die Regisseure beschäftigten sich sowohl im Dokumentar- als auch im Spielfilm (und sogar in Animationsfilmen, von denen zwei Beispiele auf den DVDs enthalten sind) mit dem Phänomen des "neuen Menschen". Ein schönes Beispiel ist der Spielfilm "Bett und Sofa" aus dem Jahre 1927. Regisseur Abram Room erzählt die Geschichte zweier Freunde in Moskau, die die gleiche Frau kennen-und liebenlernen und mit ihr zusammenziehen.

In "Bett und Sofa" kommt es zur "Liebe zu dritt"

Doch anders als zu vermuten und anders als es beispielsweise in den Melodramen Hollywoods üblich war, führt das nicht zu einem Konflikt zwischen den beiden. Zumindest nicht zu einem erwartbaren Eifersuchtsdrama. Auch als die Frau schließlich schwanger wird (von wem bleibt unklar) und ihr die Männer zu einer Abtreibung raten, gerät die "Liebe zu dritt (Ljubow wtrojom) zunächst nicht aus dem Tritt. "Bett und Sofa" endet mit der Reise der Frau aufs Land - dort will sie ihr Kind alleine zur Welt bringen.

Plakat von "Der neue Mensch" (absolut Medien GmbH).
Das Bild des neuen Menschen wurde auch in Kunst und Grafik gepflegtBild: absolut Medien GmbH

Es sind mehrere Dinge, die in Rooms Film beispielhaft für das neue Genre dieser russischen Alltagsfilme auffallen. Angesprochen werden Themen, die die Menschen damals in ihrem ganz normalen Alltagsleben beschäftigen: Wohnungsnot in den großen Städten Russlands, Alternativen zur kleinbürgerlichen Ehe, sexuelle Freizügigkeit, die Stellung und die neue Rolle der Frau in der Gesellschaft, die Abtreibungsproblematik und Weiteres mehr.

"Die seelischen Konflikte der Akteure" standen im Vordergrund

Und es sind geradezu revolutionäre Gedanken, die in Filmen wie "Bett und Sofa" angestoßen wurden. Beide Männer melden gemeinsam die Geburt des Kindes an - für eine gemeinsame Vaterschaft. "Derartiges war nach dem neuen sowjetischen Eherecht möglich, aber wohl doch außergewöhnlich", schreiben Alexander Schwarz und Rainer Rother im Booklet der DVD. Drehbuchautor Wiktor Schklowski und Regisseur Room hätten ein "Kammerspiel-Melodram" geschaffen, in dem "die emotionalen und seelischen Konflikte der Akteure im Vordergrund stehen (…) alle arrangieren sich in einer Dreierbeziehung." 

Regisseur Sergej M. Eisenstein (picture-alliance/dpa/Tass).
Großmeister des Revolutionsfilms: Sergej M. EisensteinBild: picture-alliance/dpa/Tass

Auch wenn sich Filmemacher wie Room durchaus in den Dienst der revolutionären gesellschaftlichen Veränderungen stellten und mitarbeiteten am ideologischen Umbruch der Zeit, unterliefen sie mit ihren Erzählungen und Geschichten doch oft die offiziellen Kunstvorgaben. Manche gesellschaftlichen Neuerungen der Zeit, die später nach der Machtübernahme durch Stalin wieder rückgängig gemacht wurden, fanden in diesen Filmen ihren Widerhall: So wurden beispielsweise in Sachen Ehe, Partnerschaft und Frauenrolle zukunftsweisende und noch heute modern wirkende Gesetze erlassen.

Gesellschaftliche Umbrüche im Kino abgebildet

Schaut man auf das heutige Putin-Russland, so erscheint manches von damals noch heute revolutionär: "Ehe bzw. Partnerbeziehungen waren nun reine Privatangelegenheit und staatlicher Bevormundung und kirchlicher Kontrolle entzogen...die Erziehung und Betreuung der Kinder und Jugendlichen übernahm der Staat, durch Krippen, Kindergärten, Arbeitsschulen und kommunistische Kinder- und Jugendorganisationen." (Schwarz/Rother). Viele dieser mit gutem Willen eingeführten Neuerungen wurden in den 1930er Jahren durch das repressive System in der Sowjetunion wieder stark verändert oder zurückgenommen.

Filmstill aus "1917 - Die russische Revolution" (absolut Medien GmbH).
Die russische Landbevölkerung litt unter Hungersnot und Bürgerkrieg: Szene aus der Doku "1917" von Paul JenkinsBild: absolut Medien GmbH

Die Filme in den 1920er Jahren brachten neben dem erzählerischen Aufbruch auch zahlreiche ästhetische Neuerungen mit sich. Filme wie "Bett und Sofa", "Der Mann, der das Gedächtnis verlor", (1929, von Friedrich Ermler) oder auch der mit dokumentarischen Mitteln arbeitende "Film-Prawda Nr. 18" (1924, von Dsiga Wertow) zeichnen sich durch eine kühne Schnitt- und Montagetechnik, aufregende expressionistische Schwarz-Weiß-Bilder oder eine entfesselte Kamera aus. Die Spielfilme jener Zeit sind zudem heute von großem Interesse, weil sie viele authentische Aufnahmen aus den Städten und Ländern des Riesenreichs aus der Zeit zeigen.

Mit Stalin endete die Blüte des sowjetischen Kinos

Der Begriff des "Neuen Menschen" wurde auch in späteren Jahren, als Russland unter dem Knüttel des Stalinismus ächzte, in Kino und Film gepflegt - freilich erhielt das Schlagwort vom "Neuen Menschen" dann einen ganz anderen Klang. Mit der neuen Politik unter Stalin endete die kurze Blüte des sowjetischen Kinos: "Die kurzen Jahre der sowjetischen Avantgarde waren zu Ende." (Schwarz/Rother).

DVD-Cover des Films "1917 -Die russische Revolution" (absolut Medien GmbH).

Die DVD "Der neue Mensch - Aufbruch und Alltag im revolutionären Russland" ist in der "filmedition suhrkamp" beim Suhrkamp Verlag in Kooperation mit dem DVD-Anbieter "absolut medien" erschienen und enthält neben acht Spiel- und Dokumentarfilmen ein ausführliches Booklet von Alexander Schwarz und Rainer Rother.

Bei "absolut medien" ist auch der Dokumentarfilm "1917, Die russische Revolution" von Paul Jenkins erschienen, der einen gut bebilderten Überblick über die Geschehnisse in den Revolutionsjahren bietet und die politischen Ereignisse mit den Kinobildern von Filmkünstlern wie Sergej Eisenstein, Dsiga Wertow oder Boris Barnet in Beziehung setzt.

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