Nike Wagner zum 75. Geburtstag
9. Juni 2020Wenn Nike Wagner von den zeitgenössischen Komponisten spricht, bei denen sie als Intendantin des Beethovenfestes Werke in Auftrag gegeben hat, dann glänzen ihre Augen. "Ich bin der zeitgenössischen Musik sehr verbandelt und es hat mich interessiert, was sie denken über den alten Herrn, über Beethoven", sagte sie erst kürzlich in einem DW-Interview. Die neuen Auftrags-Stücke sollten sich immer auf ein Werk des klassischen Komponisten beziehen.
Alle Kompositionen hätten im März noch einmal aufgeführt werden sollen beim "kleinen" Beethoven-Frühjahrsfest im Beethoven-Jubiläumsjahr. Die Corona-Pandemie machte den Veranstaltern einen Strich durch die Rechnung. Dass diese Konzerte auch im kommenden Jahr beim Beethovenfest nicht nachgeholt werden können, schmerzt Nike Wagner besonders. "Das hätte ein Wieder-Hören der fünf Uraufführungs-Werke ermöglicht, aus Italien, Frankreich, Österreich, Russland und Deutschland. Beethoven und Europa: Das hätte ohnehin gepasst!"
Beethoven im Kontext sehen
Beethoven im Kontext anderer Komponisten zu sehen, das ist Nike Wagners Motto, seit sie 2014 die Intendanz beim Beethovenfest übernommen hat. "Mir kam es auf eine ganz andere Beethoven-Programmation an, mehr Beethoven im Kontext der Zeit vor ihm und der Zeit nach ihm." Nike Wagner entdeckt gerne Neues und arbeitet interdisziplinär. Sie wagt Experimente mit neuer Musik ebenso wie mit der Verbindung von Tanz, Film, Lesung und Musik.
Das macht einen großen Reiz ihrer Beethovenfeste aus, doch ihre Experimentierfreude stößt nicht immer auf Gegenliebe. Manche vermissten die großen, populären Beethoven-Werke, die die Massen begeistern. "Ich habe gelernt, dass man sieben bis zehn Jahre braucht, um ein Publikum von seinem Programm zu überzeugen. Das belegt die Erfahrung von Festspielleitern", meint sie gegenüber der DW. "Ab dem siebten Jahr geht es dann aufwärts. Vielleicht hätte ich noch drei Jahre gebraucht". Gerade jetzt befindet sich Nike Wagner im siebten Jahr und gleichzeitig in der letzten Amtsphase als Intendantin.
Kindheit auf dem grünen Hügel
In Bayreuth, im "Haus Wahnfried" ihres Urgroßvaters Richard Wagner, wuchs Nike Wagner auf. Ihre Mutter Gertrud war Tänzerin und Choreographin. Ihr Vater Wieland Wagner hatte gemeinsam mit dem jüngeren Bruder Wolfgang Wagner alles dafür getan, die Wagner-Festspiele in Bayreuth nach dem Zweiten Weltkrieg buchstäblich wieder "salonfähig" zu machen.
Die Nationalsozialisten hatten Richard Wagners Kultstätte und seine Bühnenprogramme für sich vereinnahmt, auch mit der Unterstützung der Großmutter von Nike Wagner, Winifred Wagner. Die beiden Brüder, Wolfgang und Wieland, machten es sich zur Aufgabe, ihr "Neubayreuth" vom ideologischen Ballast zu befreien und stattdessen mit hochwertigen Produktionen zu überzeugen.
Auf dem "grünen Hügel", wie die weltweit bekannte Festspielstätte Richard Wagners auch genannt wird, verbrachte Nike Wagner nach eigenen Angaben eine glückliche und freie Kindheit. Später studierte sie Musik-, Theater-, und Literaturwissenschaften. Sie lebte in Berlin, Chicago, Paris und Wien. In Illinois promovierte sie in den 70er Jahren; allerdings nicht etwa über Richard Wagner, ihren Urgroßvater oder über Beethoven, sondern über "Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne".
Der Wagner-Clan
Seit dem Tod ihres Vaters hatte der Onkel, Wolfgang Wagner, die Leitung der Festspiele übernommen. Nike Wagner kritisierte immer wieder das überalterte Konzept. Als freie Kulturwissenschaftlerin und Autorin hat sie sich auch kritisch mit ihrer Familiengeschichte auseinandergesetzt, etwa in ihrem 1982 veröffentlichten Buch "Wagnertheater".
Gerne hätte sie 1999 selbst das Erbe der Festspiele angetreten. Zweimal bewarb sie sich um das Amt der Festspielleitung. Zuletzt wurde ihre Cousine Katharina Wagner 2008 als Festspielleiterin in Bayreuth berufen.
Den Geist des Gesamtkunstwerks von Richard Wagner, der Musik, Dichtung, Tanz, Architektur und Malerei vereinte, hat sie an anderen Orten weitergeführt. Von 2004 bis 2013 war Nike Wagner künstlerische Leiterin des Kunstfestes Weimar und hat dort mit ihrer Kombination von Musik, Tanz, Bild und Wort künstlerische Maßstäbe gesetzt. Dafür erhielt sie im November 2013 den Thüringer Verdienstorden.
Das Erbe von Richard Wagner und Franz Liszt
Die "exorbitanten Kunst-Ansprüche" an sich und die Gesellschaft, das sei eine der besten Eigenschaften ihres Urgroßvater Richard Wagner gewesen, sagte die Beethovenfest-Intendantin dem Bonner Generalanzeiger. An ihrem Ur-Urgroßvater Franz Liszt schätzt sie den selbstlosen Einsatz für andere Komponisten seiner Gegenwart, auch in sozialer Hinsicht.
Franz Liszt war großer Beethoven-Verehrer. Er transkribierte Beethovens neun Sinfonien für Klavier und richtete das erste Beethovenfest in Bonn zum 75. Geburtstag des Komponisten aus. In diesem Jahr im September hätten seine Klavierfassungen durch verschiedene bekannte Interpreten beim Beethovenfest erklingen sollen. Vielleicht lässt sich dieses Projekt 2021 noch realisieren.
Familienversöhnung mit Beethoven
Ohne Corona hätte Nike Wagner ihre Intendantinnen-Zeit in Bonn in diesem Jahr beendet. Jetzt wird sie noch 10 Monate länger im Amt bleiben. Der Kontakt zu ihrer Cousine Katharina Wagner ist mittlerweile herzlich. Die Wagner-Familienstreitigkeiten haben die beiden Cousinen hinter sich gelassen.
Sogar einen gemeinsamen Coup hatten sie für das Beethoven-Jubiläumsjahr geplant. Das Bonner Festival sollte im September mit der 9. Sinfonie von Beethoven eröffnen, gespielt vom Bayreuther Festspielorchester. "Das ist ein Projektorchester, bestehend aus Musikern aus ganz Deutschland, das nur im Bayreuther Orchestergraben spielt", sagte Nike Wagner der DW, "aber ich dachte mir: Da Wagner ohne Beethoven nicht denkbar ist und die 9. Symphonie auch zum Jubiläum im Festspielhaus in Bayreuth gespielt werden muss, bitte ich meine Cousine, die Chefin in Bayreuth, zu kommen und die 9. authentisch aufzuführen, wie sie in Bayreuth gespielt wird."
Ob dieses Konzert nachgeholt wird, das kann Nike Wagner derzeit noch nicht absehen. Viel hat sie mit der Umorganisation des ausgefallenen Beethovenfestes zu tun. Die Zeit nach ihrer Amtszeit will Nike Wagner auf jeden Fall mit privaten Dingen verbringen: "Ich habe jetzt 17 Jahre lang im Kultur- und Musikbetrieb und direkt als Veranstalterin gearbeitet", sagt sie und da sei es Zeit, sich anderen Dingen zu widmen. "Ich bin Autorin gewesen, bevor ich Veranstalterin geworden bin und dahin kann ich immer zurückkehren. Stoff gibt es genug."
Zu ihrem 75. Geburtstag gönnt sie sich aber erst einmal eine Pause. Feiern wird sie im Kreise der Familie in der Abgeschiedenheit in Mecklenburg-Vorpommern.