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Was der Wiederaufbau der Ukraine kostet

Arthur Sullivan
12. September 2022

Während der Krieg in der Ukraine weitergeht, steigen die Kosten für den Wiederaufbau des Landes dramatisch. Ein aktueller Bericht von Weltbank und EU beziffert den Schaden bislang auf rund 350 Milliarden Euro.

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Ukraine, Donezk | Eine Frau geht an einer zerstörten Schule vorbei
Zerstörte Schule in der Region DonezkBild: Kostiantyn Liberov/AP/dpa/picture alliance

Die Kosten für den Wiederaufbau der Ukraine und ihrer Wirtschaft belaufen sich bereits jetzt auf mindestens 349 Milliarden US-Dollar (346 Milliarden Euro), wie aus einem neuen Bericht hervorgeht, der gemeinsam von der Weltbank, der Europäischen Kommission und der ukrainischen Regierung erstellt wurde.

In den mehr als sechs Monaten seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine Ende Februar hat das Land weitreichende Zerstörungen erlitten. "Die Auswirkungen der Invasion werden über Generationen hinweg zu spüren sein: Familien werden vertrieben und getrennt, die menschliche Entwicklung wird gestört, das kulturelle Erbe wird zerstört und eine positive Wirtschafts- und Armutsentwicklung wird rückgängig gemacht", heißt es in dem Bericht.

Der Bericht deckt nur den Zeitraum bis zum 1. Juni ab. Die Schäden der vergangenen drei Monate sind also noch gar nicht berücksichtigt. Der Bericht schätzt die Kosten der direkten Schäden auf 97 Milliarden US-Dollar, wobei Wohnungen, Verkehr, Handel und Industrie am stärksten betroffen sind.

Die Kosten wegen der Unterbrechung von Wirtschaft und Handel sowie der Industrieproduktion werden auf 252 Milliarden US-Dollar geschätzt. Die Ergebnisse unterstreichen das Ausmaß der Probleme, vor denen die Ukraine beim Wiederaufbau ihrer Wirtschaft steht, während sie weiter gegen die russische Invasion kämpft.

World Bank Group Logo
Bild: ANDREW CABALLERO-REYNOLDS/AFP

"Es sind erschütternde Zahlen", sagt Anna Bjerde, Vizepräsidentin der Weltbank für Europa und Zentralasien, gegenüber DW. "Wir müssen uns klarmachen, dass dieser Krieg verheerende Auswirkungen auf die Ukraine hat."

Die Schadensschätzung kommt fast zeitgleich mit neuen Wirtschaftsdaten aus der Ukraine: Danach ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Landes im zweiten Quartal gegenüber dem Vorjahr um 37 Prozent eingebrochen.

Wiederaufbau, während Kämpfe weitergehen

In dem Bericht der Weltbank wird betont, dass zwar ein schrittweiser Wiederaufbau über mehrere Jahre hinweg von entscheidender Bedeutung ist, dass aber kurzfristig rund 105 Milliarden US-Dollar benötigt werden, um die soziale Infrastruktur wie Schulen und Krankenhäuser wiederaufzubauen, Verkehrsverbindungen zu reparieren und sich auf mögliche Energieengpässe in diesem Winter vorzubereiten.

"Es ist sehr wichtig, dass die Ukraine weiter von der internationalen Gemeinschaft unterstützt wird, um ihre laufenden Betriebskosten zu decken", sagt Bjerde.

Sie unterstreicht, dass trotz des Inflationsdrucks und der Energiekrise, die den Volkswirtschaften in der ganzen Welt Probleme bereiten, befreundete Regierungen der Ukraine ihre Unterstützung zugesagt haben. Sie hofft, dass der Bericht dazu beitragen wird, den Gebern klarzumachen, welche Bereiche am dringendsten Hilfe benötigen.

"Ich denke, was wir den Ländern, die der Ukraine helfen wollen, mit auf den Weg geben können, ist ein Gefühl für Methodik und Analytik, wie man Prioritäten setzen kann, wenn die Ressourcen natürlich nicht im Überfluss vorhanden sind. Aber sie sind da und der Bedarf ist groß", so Bjerde.

Der Konflikt in der Ukraine dauere zwar noch an, es aber sei wichtig, dass der Wiederaufbauprozess jetzt beginnt.

Russland -Ukraine Krieg
Ausbildung ukrainischer Freiwilliger in der Nähe von Kiew Bild: Andrew Kravchenko/AP/picture alliance

"Es wird viel teurer, die Wirtschaft und das Land wieder aufzubauen, wenn man die öffentlichen Dienstleistungen während des Krieges erodieren lässt. Die Unterstützung des Landes während des Krieges verhindert, dass sich die Lebensbedingungen verschlechtern und die Armut noch weiter zunimmt", ist Bjerde überzeugt.

Gewöhnliches Leben erschüttert

Für die einfachen Ukrainer sind die wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges tiefgreifend.

Ljudmila Makiwska, eine 70-jährige Rentnerin, lebt in einem Dorf 100 Kilometer von Kiew entfernt. "Ich habe seit vier Monaten nicht mehr gearbeitet und bin im Zahlungsrückstand bei meinen Strom-, Heizungs- und Wasserrechnungen", berichtet sie der DW. "Deshalb ist es gut, dass ich einen eigenen Garten habe, in dem ich Kartoffeln und Gemüse anbaue. Vor zwei Monaten habe ich darum gebeten, wieder arbeiten zu dürfen, weil die Heizsaison bevorsteht. Wenn man Schulden hat, werden sie das Gas und Wasser abstellen. Und was dann?"

Jurij Kryshko, 35, lebt in einer kleinen Stadt in der Region Schytomyr im Norden des Landes. Er arbeitet in einer Fabrik für Hygieneartikel. "Oft gibt es keine Arbeit, es gibt weniger Schichten, aber ich kämpfe um jeden Cent", sagt er. "Der Lohn wird oft nicht pünktlich ausgezahlt. Er ist ohnehin schon gering, und ich zahle auch noch Unterhalt, so dass nicht genug Geld für die wichtigsten Dinge übrig bleibt. Ich weiß nicht, wie ich leben soll. Aber wenigstens habe ich einen Job - viele meiner Freunde sind entlassen worden."

Der 22-jährige Student Vlad Kyriach hat keine Arbeit. "Der Krieg hat mein Leben stark verändert", sagt er. "Die Preise sind in die Höhe geschossen: Treibstoff, Lebensmittel, Dienstleistungen. Ich habe meine Arbeit verloren. Ich bin auf der Suche nach einem neuen Job, aber es gibt dreimal so viele Arbeitssuchende wie Arbeitsangebote. Ich studiere Jura, um Anwalt zu werden. Es gibt Anzeigen für mein Fachgebiet, aber das angebotene Gehalt ist wegen der extrem gestiegenen Preise überhaupt nicht angemessen."

Armut und harter Alltag

Dem Bericht zufolge wird sich die Armut in der Ukraine voraussichtlich verzehnfachen, so dass bis Ende 2022 jeder fünfte Ukrainer in Armut leben wird. Nach Angaben der Weltbank sind steigende Lebensmittelpreise sowie die Vertreibung von Millionen von Menschen aufgrund der Zerstörung von Wohnraum die Hauptursachen.

Ukraine Kiew | Pressekonferenz: Wolodymyr Selenskyj
Fordert auch die Rückeroberung der Krim: Präsident Wolodymyr SelenskyjBild: Ruslan Kaniuka/Ukrinform/ABACA/picture alliance

Die Experten der Weltbank betonen, dass der prognostizierte Anstieg der Armut größer ausfallen wird als vorhergesagt, wenn Regierungen und Institutionen auf der ganzen Welt nicht genug Finanzmittel bereitstellen, um das große und wachsende nichtmilitärische Haushaltsdefizit der Ukraine auszugleichen.

"Die Ukraine musste im Inland Ressourcen anzapfen und zu Geld machen, was die Inflation in die Höhe getrieben hat. Je mehr Zuschüsse und Wirtschaftshilfe wir der Ukraine bereitstellen können, desto besser. Denn wir müssen diese Unterstützung leisten, damit die Ukraine die Auswirkungen vor allem auf die arme Bevölkerung abmildern kann", erklärt Bjerde.

Wahrung der Stabilität, Grund zur Hoffnung

In der Ukraine hat der ökonomische Schock die Fortschritte der vergangenen Jahre fast schlagartig zunichte gemacht.

Nach Berechnungen von Ilona Sologub, Wirtschaftswissenschaftlerin beim Portal Vox Ukraine, benötigte das Land sein gesamtes Wirtschaftswachstum zwischen 2016 und 2021, um die Verluste aufzuholen, die die ukrainische Volkswirtschaft durch die russische Annexion der Krim im Jahr 2014 erlitten hatte.

Der Krieg habe dramatische Auswirkungen auf die Beschäftigung der Menschen im ganzen Land gehabt. Jüngste Erhebungen hätten ergeben, so Sologub, dass rund 40 Prozent der Menschen, die vor dem Krieg Arbeit hatten, ihren Job verloren haben, während 50 Prozent derjenigen, die noch arbeiteten, Lohneinbußen hinnehmen mussten.

"Natürlich haben einige Menschen ihr Einkommen verloren, und viele Menschen haben aufgrund der Inflation ihre Kaufkraft verloren. Viele Menschen mussten ihren Wohnort wechseln", unterstreicht sie gegenüber der DW.

Ukraine Getreideexport l Getreide wird im Hafen von Reni an der Donau umgeladen
Getreideverladung im Hafen von Reni an der Donau, nahe der Grenze zu Rumänien Bild: Sergii Kharchenko/NurPhoto/picture-alliance

Wenn es nach Sologub geht, sind die wichtigsten wirtschaftlichen Aufgaben der ukrainischen Regierung jetzt, die makroökonomische Stabilität zu wahren und Steuern zu erheben, um weiterhin die wichtigsten öffentlichen Dienstleistungen zu finanzieren.

In dieser Woche erklärte die ukrainische Zentralbank, dass bei einer Abschwächung der Kämpfe die Wirtschaft im Jahr 2023 wieder wachsen könnte. Trotz des enormen BIP-Rückgangs von 37 Rückgangs im zweiten Quartal gaben einige Zahlen für August Anlass zu Optimismus - vor allem die Zahlen für die Landwirtschaft.

Nach einer Vereinbarung zwischen der Ukraine und Russland, die kürzlich von den Vereinten Nationen und der Türkei vermittelt wurde, konnten die Getreidelieferungen aus der Ukraine in andere Länder nach einer monatelangen Seeblockade wieder aufgenommen werden. Getreideexporte sind eine zentrale Einnahmequelle für die Ukraine.

Der russische Präsident Wladimir Putin deutete jedoch in dieser Woche an, die Vereinbarung überprüfen zu wollen. Er behauptet, dass nicht genug Getreide an die bedürftigsten Länder geliefert werde. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie groß die Unwägbarkeiten bei der wirtschaftlichen Erholung der ukrainischen Wirtschaft sind.

Mitarbeit: Liliia Rzheutska 

Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.