Volkskammerwahl 1990: Abschied von der DDR
17. März 2020Fast 41 Jahre lang mussten die Menschen in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) auf diesen Tag warten: Am 18. März 1990 durften sie endlich in einer freien und geheimen Wahl ihre Vertreter für die Volkskammer wählen. Seit Gründung der DDR 1949 stand das Ergebnis immer schon vorher fest: Jedes Mal erhielten die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) und die mit ihr in der Nationalen Front zusammengeschlossenen Parteien annähernd 100 Prozent der Stimmen. Unabhängige Gegenkandidaten gab es keine.
Doch dieses eine Mal war alles anders. Nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 hatten sich die Ereignisse überschlagen: Die allmächtige SED verlor ihre Führungsrolle, Bürgerrechtler stürmten das Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Wie in den anderen kommunistischen Ländern Europas wurde das alte Regime in einer friedlichen Revolution hinweggefegt. Und nur vier Monate nach der Grenzöffnung Richtung Westen kandidierten 24 Parteien und Bündnisse um die Gunst der rund zwölf Millionen Wahlberechtigten.
Die DDR war innerhalb der ehemaligen Ostblockstaaten eine Ausnahme: Bei der Volkskammerwahl ging es nämlich auch um die Frage, ob und unter welchen Bedingungen das geteilte Deutschland wiedervereinigt werden sollte. Die Antwort der "Allianz für Deutschland" war klar: so schnell wie möglich. Unter dem Motto "Nie wieder Sozialismus" triumphierte das Bündnis aus Christdemokraten (CDU), Deutscher Sozialer Union (DSU) und Demokratischem Aufbruch (DA) – 48 Prozent votierten für die im Wahlkampf massiv vom westdeutschen Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) unterstützte Allianz.
Eine Partei wollte die Deutsche Einheit schon am 17. Juni 1990
Zur Präsidentin der Volkskammer, also des Parlaments, wurde die Ärztin Sabine Bergmann-Pohl gewählt. Wie die allermeisten war die damals 43-Jährige keine Berufspolitikerin. Man habe schon eine "Portion Mut" gebraucht, um die Arbeit in der Volkskammer zu erledigen, sagt sie 30 Jahre danach im DW-Gespräch. Und das Pensum war enorm: 38 Plenarsitzungen in nur sechs Monaten, davon viele bis tief in die Nacht. In dieser kurzen Zeit wurden sage und schreibe 164 Gesetze beschlossen.
Am 17. Juni 1990 stellte die DSU in einer Feierstunde zum Gedenken an den DDR-Volksaufstand 1953 überraschend den Antrag, der Bundesrepublik sofort beizutreten. Das habe die Volkskammer "in große Turbulenzen gestürzt", erinnert sich Bergmann-Pohl. Man habe den Antrag dann in die Ausschüsse verwiesen. "Die Zeit war einfach noch nicht reif", sagt die damalige Volkskammerpräsidentin. Wohl wahr, denn zu diesem frühen Zeitpunkt existierten zumindest formal noch Grenzen zwischen den beiden deutschen Staaten. In der DDR gab es noch die alte Währung, erst Anfang Juli wurde die westdeutsche D-Mark eingeführt, die später dem Euro weichen musste.
Ein Pfarrer wird Minister für Abrüstung und Verteidigung
Knapp einen Monat nach der Volkskammerwahl wurde am 12. April 1990 der CDU-Politiker Lothar de Maizière zum letzten Präsidenten einer DDR-Regierung gewählt. Zu den schillerndsten Figuren seines Kabinetts gehörte der Pfarrer Rainer Eppelmann vom Demokratischen Aufbruch (DA). Die Bürgerrechtsgruppierung schloss sich später der Ost-CDU an. Der Wehrdienstverweigerer hatte als Minister für Abrüstung und Verteidigung einen besonders heiklen Job: Er war für die Nationale Volksarmee (NVA) zuständig.
Die Soldaten hätten sich als "Schutz der sozialistischen, kommunistischen Regierung in der DDR verstanden", sagt Eppelmann im DW-Gespräch. Seine Sorge: "Die hätten auch mit einer Gegenbewegung das alles wieder zerschlagen können." Um das zu verhindern, habe man ihnen die Hoffnung machen müssen, im neuen Deutschland auch eine Chance zu haben. Das Vorhaben gelang, die NVA wurde in die westdeutsche Bundeswehr integriert. Und nach anfänglichem Zögern war auch der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow damit einverstanden, das vereinte Deutschland im Nordatlantischen Verteidigungsbündnis (Nato) zu belassen.
Rainer Eppelmann: "Wir müssen über Gorbatschow reden"
Die Rolle Helmut Kohls in den Monaten des großen Umbruchs in der DDR und Osteuropa hält Eppelmann für überschätzt. Man müsse über Gorbatschow reden, über den polnischen Papst Johannes Paul II., der die Gewerkschaftsbewegung Solidarność gestützt und getragen habe. Und man müsse über "die paar tausend sprechen, die sich jahrelang in der DDR getraut hatten, den Mund aufzumachen".
Das Verdienst der DDR-Regierung unter Lothar de Maizière sei es dann gewesen, die Einheit schnell herbeizuführen. Eppelmann lobt vor allem das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen: Sie hätten die Diktatur "aus eigener Kraft, mit viel Glück und günstigen Umständen" beendet. Im Unterschied zur alten Bundesrepublik im Westen hätten sich die Menschen in der DDR die Freiheit selbst erkämpft.
Ähnliche Töne schlägt Sabine Bergmann-Pohl an. Die letzte Volkskammerpräsidentin war nach einer Verfassungsänderung zugleich letztes Staatsoberhaupt der DDR. Als "größte Leistung" betrachtet sie auch 30 Jahre nach dem Ende der SED-Diktatur, "dass die Menschen von heute auf morgen Demokratie eingeübt haben". Und es dann, obwohl politisch unerfahren, geschafft hätten, die Wiedervereinigung zu gestalten. Aber auch Bergmann-Pohl musste schnell eine Lektion lernen, die Deutschland bis in die Gegenwart prägt: "Das Zusammenwachsen der Deutschen war dann schwieriger und langwieriger, als wir es damals geglaubt haben."
Im Schnellverfahren: Vertrag über die Deutsche Einheit
Das Gefühl vieler Ostdeutscher, Bürger zweiter Klasse zu sein, kann Bergmann-Pohl gut nachvollziehen. Die Lebensleistungen der Menschen seien zu wenig anerkannt und die DDR-Erfahrungen zu wenig berücksichtigt worden. Trotzdem könnten sie stolz darauf sein, wie schnell sie sich in die für sie völlig neuen wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen eingefunden hätten. "Solche Veränderungen in so kurzer Zeit hat kein Westdeutscher mitgemacht."
Die wichtigste Entscheidung der Volkskammer fiel auf einer kurzfristig einberufenen Sondersitzung in den frühen Morgenstunden des 23. Augusts 1990. Mit überwältigender Mehrheit stimmte das Parlament dafür, am 3. Oktober der Bundesrepublik Deutschland beizutreten. In Windeseile verhandelten Politiker aus Ost und West über den Vertrag zur Deutschen Einheit. Für die mehr als 1000 Seiten benötigten sie nur vier Sitzungen. Am 20. September votierten beide Parlamente des nur noch wenige Tage geteilten Landes für den Einigungsvertrag.
Angela Merkel hatte 1990 eine wichtige Nebenrolle
Die prägenden Figuren sowohl der letzten Volkskammer als auch der letzten DDR-Regierung spielten auf der politischen Bühne des vereinten Landes nur für kurze Zeit wichtige Rollen – wenn überhaupt. "Wir waren alle Anfänger in der Politik", sagt Rainer Eppelmann, der bis 2005 einfacher Abgeordneter des Bundestages war. Als ehrenamtlicher Vorsitzender der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur kümmert er sich weiterhin intensiv um die DDR-Vergangenheit und was man daraus lernen kann.
Sabine Bergmann-Pohl wurde 1990 Ministerin für besondere Aufgaben, um in dieser Funktion den ostdeutschen Blick im westdeutsch dominierten Politikbetrieb zu schärfen. Später war sie parlamentarische Staatssekretärin im Gesundheitsministerium. Noch bis 2002 saß sie für die CDU im Bundestag. Vorsitzende der Partei war zu diesem Zeitpunkt bereits eine Politikerin, die 1990 zwar kein Volkskammer-Mandat hatte, aber als stellvertretende Regierungssprecherin wertvolle Erfahrungen sammelte – ihr Name: Angela Merkel. Ihre Karriere als Bundeskanzlerin begann 2005. Die Volkskammer der DDR was da schon seit 15 Jahren Geschichte.