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PolitikUkraine

Einwohner von Cherson fürchten ein zweites Mariupol

Lilia Rzheutska | Igor Burdyga
11. November 2022

Russland verkündet den vollständigen Abzug seiner Truppen aus der ukrainischen Stadt Cherson. Doch die Unsicherheit bleibt groß, die Lage entwickelt sich schnell. Die DW konnte mit Menschen in der Stadt reden.

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Autobahn an der Grenze zum Gebiet Cherson
Autobahn an der Grenze zum Gebiet ChersonBild: Metin Aktas/AA/picture alliance

Russland hat nach eigenen Angaben den Rückzug seiner Truppen aus dem Norden der ukrainischen Region Cherson abgeschlossen. Erst vor wenigen Tagen hatte das russische Verteidigungsministerium ein "Manöver" angekündigt. Dabei sollten die Truppen aus der von den Russen noch besetzten Stadt Cherson auf das gegenüberliegende linke Ufer des Flusses Dnipro verlegt werden. Einheiten der ukrainischen Streitkräfte betreten die Stadt. Verbliebene russische Soldaten sind aufgefordert, sich zu ergeben.

"Das russische Militär vermint alles, was es kann"

Die stellvertretende Verteidigungsministerin der Ukraine, Anna Maljar, teilte mit, dass die russischen Besatzer im Gebiet Cherson alle Mobilfunkanlagen demontieren und auch Wi-Fi-Router beschlagnahmen würden, um die Menschen jeglicher Kommunikation zu berauben. "In Ortschaften der Region Cherson richtet der Feind Artilleriestellungen ein, direkt in Wohngebäuden. Er führt Befestigungsarbeiten durch, bei denen Privathäuser zerstört werden", so Maljar bei einem Briefing.

Infografik Karte Staudamm Kachowa in der Ukraine DE
Das Gebiet Cherson im Süden der Ukraine mit dem wichtigen Kachowka-Staudamm

Mychajlo Podoljak, Berater im ukrainischen Präsidialamt, befürchtet, Russland könnte Cherson mit Beschuss vom linken Ufer aus in eine einzige Ruine verwandeln: "Die Russische Föderation will Cherson zu einer 'Stadt des Todes' machen. Das russische Militär vermint alles, was es kann - Wohnungen und die Kanalisation. Die Artillerie auf dem linken Ufer will die Stadt in Trümmer legen. So sieht die 'Russische Welt' aus: Sie sind gekommen, um zu rauben, dies zu feiern, 'Zeugen' zu töten, um schließlich die Ruine zu verlassen und abzuhauen", so Podoljak.

"Weder Strom, Wasser, Heizung noch Informationen"

Obwohl es in Cherson seit Tagen keine stabile Mobilfunk- und Internetverbindung gibt, ist es der DW gelungen, mit mehreren Einwohnern der Stadt zu kommunizieren. Sie alle waren dazu unter der Bedingung bereit, anonym bleiben zu können. Die meisten von ihnen sind verängstigt und verzweifelt, weil aufgrund des fehlenden Zugangs zum Internet niemand genau weiß, was derzeit passiert und womit zu rechnen ist. "Wir haben weder Strom, Wasser, Heizung noch Informationen. Es tut mir leid, aber ich gebe keine Auskünfte mehr, seitdem man mir eine Tüte über den Kopf gestülpt hat", sagte ein Mann, der wegen seiner pro-ukrainischen Einstellung unter den russischen Besatzern entsprechend leiden musste.

Ein erheblicher Teil der Menschen, die in der Stadt verblieben sind, hofft auf eine Befreiung durch die ukrainische Armee. Aber auch sie glauben nicht, dass die russischen Truppen die Stadt einfach so aufgeben werden. "Eine Internetverbindung hat man nur, wenn man am Ufer des Dnipro steht. Gerade sind die Russen auf uns zugekommen und haben uns gewarnt, es sei ratsam, Cherson schnellstmöglich zu verlassen, weil sie anfangen werden, die Stadt zu beschießen und sie in ein zweites Mariupol zu verwandeln. Ob man ihren Drohungen glauben soll oder nicht, muss jeder für sich entscheiden. Aber in der Stadt gibt es praktisch keine Besatzer mehr", sagte Tetjana, eine Einwohnerin von Cherson. Auch seien inzwischen alle russischen Flaggen entfernt worden. "Wir warten sehnsüchtig auf die Streitkräfte der Ukraine", fügte sie hinzu.

Ukraine Krieg | Evakuierung von Zivilisten der russischen Besatzungsverwaltung von Cherson, 19. Oktober 2022
Evakuierung von Zivilisten durch die russische Besatzungsverwaltung von Cherson, 19. Oktober 2022Bild: Dmitry Marmyshev/TASS/IMAGO

Tetjana zufolge wurde die von den russischen Besatzungsbehörden organisierte sogenannte "Evakuierung" der Bevölkerung inzwischen offiziell abgeschlossen. Es gibt jedoch Einwohner von Cherson, die versuchen, die Stadt selbständig zu verlassen. Viele von ihnen fahren nach Skadowsk am linken Ufer des Dnipro. Von dort wollen sie über die von der Russischen Föderation annektierte Halbinsel Krim weiter in europäische Länder gelangen, was derzeit sehr gefährlich und fast unmöglich ist.

Hoffnung auf baldige Befreiung

Die Menschen, die in Cherson bleiben, leiden unter einem Mangel an grundlegenden Dingen. Roman, der als Ingenieur bei einem kommunalen Versorger beschäftigt ist, sagt, dass in den Hochhäusern der Stadt die Heizung nicht funktioniere. Es gebe Ausfälle bei der Gas- und Stromversorgung. "Aber einige Geschäfte auf dem Zentralmarkt haben noch geöffnet und Kleinbusse verkehren weiterhin in der Stadt. Die großen städtischen Busse, die noch vor dem Krieg angeschafft wurden, haben die Russen leider aufs linke Ufer 'evakuiert'", berichtet Roman.

"Strom und Internet haben wir nur mit Unterbrechungen, das hängt vom Stadtteil ab", weiß Serhij, der als Verwaltungsleiter an einer Bildungseinrichtung der Stadt tätig ist. In Hochhäusern könne wieder das ukrainische Fernsehen empfangen werden. Auch wenn es inzwischen deutlich weniger russische Soldaten in der Stadt gebe, herrsche unter den Menschen doch ein sehr starkes Gefühl der Unsicherheit. "In den Vororten von Cherson wird es immer lauter, es sind immer wieder Explosionsgeräusche zu hören", sagt Serhij der DW. "Das weckt die Hoffnung, dass die ukrainischen Streitkräfte die Stadt bald befreien werden."

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk