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Gesellschaft

Spätaussiedler stecken fest

Victor Weitz mo
29. Mai 2020

Dutzende deutschstämmige Familien aus Russland und anderen postsowjetischen Ländern sind in Not: Wegen der Corona-Pandemie können sie nicht nach Deutschland einreisen - und sitzen nun ohne Bleibe auf gepackten Koffern.

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Coronavirus | Flugzeuge | Flughafen Frankfurt am Main
Bild: Reuters/A. Dedert

"Häuser und Wohnungen sind verkauft, Jobs gekündigt, der Wohnsitz abgemeldet. Jetzt mieten wir Unterkünfte und warten auf die Abreise nach Deutschland. Die Preise für Flugtickets sind exorbitant gestiegen. Viele haben kein Geld mehr." Dies steht in einem Brief an die DW, der von rund 300 Personen unterzeichnet ist. Wegen der derzeit geltenden Grenzschließungen können die Spätaussiedler nicht nach Deutschland reisen. Nun bitten sie die Öffentlichkeit und die Politik um Hilfe.

Abgeschickt wurde der Brief von Jewgenij Alles aus dem südrussischen Stawropol. Er koordiniert die Aktion und hat für die Betroffenen eine WhatsApp-Gruppe eingerichtet. Der Appell, so Alles, sei auch ans Auswärtige Amt und das Bundesinnenministerium geschickt worden, in dessen Verantwortung die Aufnahme von Spätaussiedlern liegt.

"Wir kämpfen täglich ums Überleben"

"Um eine ständige Aufenthaltserlaubnis in Deutschland zu bekommen, darf man keine Verpflichtungen gegenüber Privatpersonen und Behörden haben", sagt Alles der DW in einem Telefongespräch. Vor einer Abreise müsse alles erledigt sein, was er und seine Frau auch getan hätten: Sie verkauften ihre Wohnung und packten die Koffer. Zusammen mit ihrem kleinen Sohn fuhren sie mit allen notwendigen Dokumenten zum deutschen Konsulat nach Moskau. Dort beantragten sie am 10. März ein Visum. In der russischen Hauptstadt kamen sie in einer vorübergehend angemieteten Wohnung unter. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine Einschränkungen wegen der sich ausbreitenden Corona-Pandemie.

Spätaussiedler aus Russland warten auf die Einreise nach Deutschland / Jewgenij Alles mit seiner Familie
Jewgenij Alles mit seiner FamilieBild: Privat

"Selbst am 16. März, als die Quarantäne verhängt wurde, teilte uns das Konsulat telefonisch mit, wir sollten den Bescheid noch abwarten. Erst am 20. März wurden wir darüber informiert, dass die Visa-Erteilung aufgrund der Quarantäne ausgesetzt ist. Unsere Reisepässe sind weiterhin im Konsulat", berichtet Jewgenij Alles. Auf Rat des Konsulats fuhr die Familie zurück nach Stawropol. Dort mietet sie nun eine Wohnung und muss sogar an Lebensmitteln sparen. Für ein Ticket nach Deutschland wird sie sich Geld leihen müssen.

"Wir werden unserem Schicksal überlassen"

In einer ähnlichen Lage sind die Tscherwinskijs aus Karaganda. Am 6. Februar erhielten Jekaterina Tscherwinskij, ihr Mann Denis und die dreijährigen Zwillingssöhne Andrej und Roman einen Aufnahmebescheid. Daraufhin reichten sie am 5. März beim deutschen Konsulat in der kasachischen Hauptstadt Nursultan alle notwendigen Unterlagen ein. "Normalerweise bekommt man ein Visum innerhalb von drei bis fünf Tagen", so Jekaterina Tscherwinskij. Doch erst am 19. März sei sie informiert worden, dass das Visum erteilt sei, doch die Pässe könnten sie wegen der Quarantäne noch nicht bekommen. Die Familie sah sich gezwungen, zurück nach Karaganda zu fahren. Dort sitzen sie nun fast ohne Geld auf gepackten Koffern.

Spätaussiedler aus Kasachstan warten auf die Einreise nach Deutschland / Die Familie Tscherwinskij
Die Familie TscherwinskijBild: Privat

Bei den Evakuierungsflügen deutscher Staatsbürger aus Kasachstan oder von Personen mit ständigem Wohnsitz in Deutschland seien die Aussiedler nicht berücksichtigt worden, bedauert Jekaterina Tscherwinskij. "Wir hängen jetzt in der Schwebe: Deutschland hat die Grenzen geschlossen, und die kasachischen Beamten sagen, dass wir keine Bürger Kasachstans mehr sind und - da ohne Wohnsitz - das Land zu verlassen hätten. Nur wohin und wie?", fragt sie und fügt weinend hinzu: "Wir haben unseren Job gekündigt, unsere Wohnung billig verkauft, und jetzt müssen wir fast hungern. Wir haben das Gefühl, dass uns sowohl Kasachstan als auch Deutschland einfach unserem Schicksal überlassen."

"Wir sind praktisch obdachlos geworden"

Auch die Familie Gaufler aus dem kasachischen Taras besitzt praktisch nichts mehr - alles wurde verkauft oder verschenkt. Am 15. März fuhr die Familie nach Almaty, von wo sie nach Frankfurt fliegen sollte. "Am 17. März durften wir nicht einmal mehr den Flughafen betreten. Nur Personen mit einer Aufenthaltserlaubnis konnten noch nach Deutschland fliegen, und wir haben nur ein nationales D-Visum", erzählt Tatjana Gaufler am Telefon. Zu dem Zeitpunkt wurden auch über Kasachstan Corona-Beschränkungen verhängt. "So sind wir, mit drei Koffern unterwegs, praktisch obdachlos geworden", sagt sie und weint.

Spätaussiedler aus Russland warten auf die Einreise nach Deutschland / Tatjana Gaufler mit ihrem Sohn und Ehemann
Tatjana Gaufler mit ihrem Sohn und EhemannBild: Privat

Nur mit großer Mühe gelang es ihr, Fahrkarten zurück nach Taras zu organisieren. Dort kam die Familie zunächst bei Verwandten unter: acht Personen in einer kleinen Wohnung. Jetzt mietet die Familie eine unmöblierte Einzimmerwohnung. Da die Gauflers in Kasachstan nicht wohnhaft gemeldet sind, können sie auch keinen Job finden. Hinzu kommt, dass ihr Kind eine Behinderung hat. "Früher bekamen wir vom Staat Geld. Ich habe die Behörde gebeten, wenigstens für das Kind eine Lebensmittelhilfe zu gewähren. Aber mir wurde gesagt, dass wir nicht mehr gemeldet sind. Weder in Kasachstan noch in Deutschland interessiert sich jemand für uns", sagte Tatjana Gaufler enttäuscht.

Unter den 300 Unterzeichnern des Appells an die deutschen Behörden befinden sich auch schwerkranke Menschen. Zum Beispiel Wladimir Pankratz aus dem russischen Orenburg. Er wurde wegen Schilddrüsenkrebs im Krankenhaus behandelt und nur entlassen, um mit seiner Familie nach Deutschland zu fliegen. Doch auch sie sitzt derzeit in Russland fest.

Aussiedlerbeauftragter sichert Hilfe zu

Im Auswärtigen Amt und im Bundesinnenministerium habe es zu Beginn der Pandemie bei der Auslegung der Reisebeschränkungen der Europäischen Kommission für den EU-Raum eine unterschiedliche Auffassung gegeben, erklärte der Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Bernd Fabritius, auf DW-Anfrage. "Das Auswärtige Amt ist davon ausgegangen, dass diese Beschränkungen für alle Bürger aus den Staaten gelten, die nicht zur EU gehören. Aufzunehmende Spätaussiedler, die in Deutschland noch nicht registriert sind, sind noch nicht deutsche Staatsangehörige und unterliegen daher nach bisheriger Auslegung des Auswärtigen Amtes den Einreisebeschränkungen der Europäischen Kommission für den EU-Raum. Aus diesem Grund wurde gleich zu Beginn der Pandemie die Ausstellung der Visa für Deutschland an Spätaussiedler in den deutschen Konsulaten wohl kurzzeitig ausgesetzt", so Fabritius.

Bernd Fabritius, Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen
Bernd Fabritius, Aussiedlerbeauftragter der BundesregierungBild: BMI

Nach gemeinsamer Beratung mit dem Bundesinnenministerium und der für den Grenzschutz zuständigen Bundespolizei sei man aber zu folgendem Schluss gekommen: "Selbstverständlich genießen Spätaussiedler nach Artikel 116 des Grundgesetzes eine Sonderstellung und damit das Recht, nach Deutschland einzureisen, sobald diese einen Aufnahmebescheid und das erforderliche D-Visum erhalten haben. In diesem Fall unterliegen sie - genau wie deutsche Staatsangehörige - nicht den Reisebeschränkungen der Europäischen Kommission bei Einreise nach Deutschland. Dieser Meinung hat sich das Auswärtige Amt inzwischen angeschlossen."

Fabritius zufolge sind keine Fälle bekannt, in denen Spätaussiedlern während der Pandemie bei Vorlage eines gültigen D-Visums die Einreise an der deutschen Grenze von der Bundespolizei verweigert worden wäre: "Auch sind Russlanddeutsche aus postsowjetischen Ländern selbst während der Pandemie in der Aufnahmestelle für Spätaussiedler in Friedland angekommen."

Ferner betonte Fabritius: "Bei besonderen Härtefällen (etwa aus medizinischen Gründen), die während der Pandemie trotz erteiltem D-Visum nicht zuziehen konnten und die deswegen in Notlage geraten sind, werde ich mich dafür einsetzen, eine Härtefall-Lösung für eine zumindest anteilige Erstattung entstandener Kosten zu finden."