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Politik

Ende des Zwangsurlaubs in Russland

Juri Rescheto
12. Mai 2020

Mit Verwunderung und Kritik reagieren Beobachter in Russland auf die Ankündigung von Präsident Wladimir Putin, die Corona-Schutzmaßnahmen schrittweise zu lockern. Juri Rescheto berichtet aus Moskau.

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Zwei Bürgerinnen lauschen am Montag dem Präsidenten
Zwei Bürgerinnen lauschen dem PräsidentenBild: picture-alliance/dpa/V. Belousov

Die Moskauer freuen sich auf gutes Wetter - wären da nicht die Kontaktbeschränkungen, die dann umso schwerer fallen. Doch "das Regime der erhöhten Bereitschaft", wie die Corona-Schutzmaßnahmen im Behördensprech heißen, sind in der Hauptstadt bis Ende Mai verlängert worden.

Damit gelten hier die längsten Ausgangsbeschränkungen in ganz Russland: Die Moskauer mussten als Erste in die Isolation und dürfen vermutlich als Letzte heraus. Denn die Stadt hält bei Neuinfektionen ununterbrochen den russischen Negativrekord. Die Meldungen des Corona-Stabes von Bürgermeister Sergej Sobjanin aus den Krankenhäusern erschrecken die Bürger täglich aufs Neue.

Die Gouverneure entscheiden

Die Lockerung der Schutzmaßnahmen ist in der Russischen Föderation Ländersache - genauso wie ihre Länge und Härte zuvor von den Gouverneuren einzelner Gebiete bestimmt wurde. Darauf hat Russlands Präsident Wladimir Putin gerade erst hingewiesen und damit die Bedeutung des Föderalismus in der russischen Innenpolitik unterstrichen.

Grundsätzlich gilt jedoch: "Das Regime der arbeitsfreien Tage", wie der Zustand des öffentlichen Lebens in Russland seit sechs Wochen offiziell heißt, ist seit diesem Dienstag zu Ende. Die Situation erlaube die allmähliche Abschaffung aller Einschränkungen, resümierte Putin in seiner Rede an die Nation. Das betreffe alle Wirtschaftszweige: Sämtliche Betriebe sollen künftig wieder funktionieren können, insbesondere in der Schwerindustrie, dem Bau, der Landwirtschaft, dem Transport- und dem Energiesektor. Menschen jenseits der 65 und Patienten aus den Risikogruppen müssten aber weiterhin zu Hause bleiben, erklärte der Präsident. In vielen russischen Regionen gilt nun eine Maskenpflicht an öffentlichen Orten.

Putin am Montag während seiner Fernsehansprache
Putin am Montag während seiner Fernsehansprache Bild: picture-alliance/AP/A. Nikolsky

Über die Lockerungen wunderten sich viele Bürger, denn Russland belegt mit mehr als 10.000 zusätzlichen Fällen pro Tag mittlerweile Platz eins in der weltweiten Statistik der Neuinfektionen und Platz zwei bei der absoluten Zahl infizierter Menschen. Weshalb dann, so fragten Viele, diese Lockerungen? Und wenn sie schon kommen, warum jetzt und nicht bereits vor einigen Wochen, als die offiziellen Infektionszahlen noch deutlich niedriger waren?

Der Politologe Abbas Galjamow sieht darin den Versuch Putins, einen Rückstand gegenüber westlichen Staaten zu vermeiden. "Europäische Länder haben bereits begonnen, die Quarantäne zu beenden. Sie haben das Problem offensichtlich gelöst. Dort beginnt die Normalisierung", sagt Galjamow gegenüber der DW. "Putin versteht, dass er in den Augen der russischen Öffentlichkeit verliert, wenn Russland sie nicht einholt." Die Corona-Einschränkungen seien den Russen zudem schwerer gefallen als den Europäern, weil der Lebensstandard in Russland niedriger sei und die meisten Russen keine Ersparnisse besäßen.

Ein Corona-Patient wird in ein Moskauer Krankenhaus eingeliefert
Ein Corona-Patient wird in ein Moskauer Krankenhaus eingeliefertBild: picture-alliance/dpa/I. Pitalev

Der Politologe kritisiert den russischen Präsidenten dafür, dass der das Leben der Bürger gefährde, um seine Beliebtheitswerte zu retten: "Er möchte, dass die Russen glauben, dass es ihnen nicht schlechter geht als den Menschen im Westen." Schließlich hätten die Staatsmedien die Lage im Westen  zuvor als katastrophal dargestellt. Von dramatischen Umständen in Spanien sei die Rede gewesen und von "herumliegenden Toten in den USA". "Putin hat sich selbst mit seiner Propaganda in die Falle gelockt", sagt Galjamow. "Jetzt ist er gezwungen ist, die Realität und die Statistik zu ignorieren. Man kann nur hoffen, dass diese Lockerungen keinen steilen Anstieg der Erkrankungen und Todesfälle mit sich bringen."

Aus wirtschaftlicher Sicht ändere sich - zumindest in den Ballungsgebieten - nichts, stellt Sergej Zhaworonkow vom Gaidar-Institut für Wirtschaftspolitik im Interview mit der DW fest. Putin verlagere die Verantwortung auf die Gouverneure und die Gouverneure würden eher weitere Verschärfungen statt Lockerungen beschließen wollen. "Die einzige Änderung, die die Menschen wirklich interessieren würde, wäre die Öffnung der Non-Food-Geschäfte, die auch wichtig fürs Überleben sind. Das macht aber die russische Regierung leider nicht", sagt Zhaworonkow. Nach wie vor haben nur Lebensmittelläden und Apotheken geöffnet. Dabei trage eine kleine Autowerkstatt weniger zur Ausbreitung des Virus bei als ein riesiger Supermarkt, meint Zhaworonkow. Er befürchtet "katastrophale Folgen" für die russische Wirtschaft.

Lockdown macht Russen kreativ

Aber es gibt auch positive Reaktionen auf Putins Rede an die Nation. Sergej Netjosow, Virologe an der Staatsuniversität Nowosibirsk, erkennt darin vor allem eine Wende bei der Bekämpfung des Virus. Insbesondere die Maskenpflicht findet er gut. "Ich glaube, dass das obligatorische Tragen von Schutzmasken deutlich effektiver ist als manche andere Schutzmaßnahmen." Als Beispiel führt Netjosow die Schließung von Universitäten an: "Die Studenten bleiben in Studentenwohnheimen und haben einen noch engeren Kontakt miteinander."

Der Virologe betont: "Nur das richtige Tragen von Schutzmasken schützt auch vor dem Virus. Man hätte das aber viel früher einführen müssen, statt die Autos in der Stadt zu verfolgen." Damit meint Netjosow das elektronische System der Passierscheine, das in Moskau, Nischnij Nowgorod und Kasan eingeführt wurde. Wer ohne eine solche elektronische Erlaubnis mit seinem PKW in der Stadt unterwegs war und entweder von der Polizeistreife oder durch die Überwachungskameras erwischt wurde, musste eine Strafe von bis zu 5000 Rubel zahlen, das sind umgerechnet 63 Euro.

Die Lockerungen hält Netjosow für verfrüht: "Russland befindet sich gerade auf dem Höhepunkt und nicht beim Abflauen der Pandemie. Man darf in dieser Lage die Einschränkungen nicht lockern." Die Krankenhäuser seien am Rande der Überfüllung.

Welchen Effekt die jüngsten Änderungen auf die Infektionszahlen haben, dürfte sich erst in den kommenden Tagen und Wochen zeigen - und auch, wie sie sich auf die Beliebtheitswerte des russischen Präsidenten auswirken.

Rescheto Juri Kommentarbild App
Juri Rescheto Chef des DW-Büros Riga