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Regisseur von "20 Tage in Mariupol": Der Kampf geht weiter

Elizabeth Grenier
20. Oktober 2023

Der ukrainische Journalist Mstyslav Chernov weiß, dass sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf Israel verlagert. Doch der Krieg in der Ukraine ist nicht vorbei. Sein Film dokumentiert dessen Brutalität.

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Filmstill: Eine hochschwangere Frau wird von mehreren Männern auf einer Bahre getragen, im Hintergrund ein stark beschädigtes Gebäude.
Eine hochschwangere Frau auf einer Bahre: Ein Bild aus Mariupol, das sich eingebrannt hat.Bild: 20 Days in Mariupol/HRFFB

Eine schwangere Frau wird nach einem russischen Raketenangriff auf eine Entbindungsklinik auf einer Bahre liegend abtransportiert. Sie und ihr Ungeborenes werden sterben. Diese Bilder sind nur ein Teil der schockierenden Videos, die die russische Belagerung von Mariupol dokumentieren und um die Welt gingen. Die Bilder beschönigen nichts - sie zeigen schonungslos die Realität eines grausamen Krieges und das unendliche Leid der Bevölkerung.

Dass es sie überhaupt gibt, ist einem ukrainischen Reporterteam zu verdanken, das für die Nachrichtenagentur Associated Press (AP) in der Hafenstadt arbeitete. Als sie von den russischen Truppen eingekesselt und bombardiert wurde, saßen die vier Reporter als letztes internationales Journalistenteam in der Falle. Sie beschlossen, die ersten 20 Tage der brutalen Belagerung aufzuzeichnen.

Filmstill: Zwei Menschen sitzen im Dunklen vor einer Petroleumlampe.
In der Falle: Menschen schützen sich in Kellern vor den russischen BombenBild: 20 Days in Mariupol/HRFFB

Die ukrainischen Reporter Mstyslav Chernov, Evgeniy Maloletka, Vasilisa Stepanenko und Lori Hinnant wurden für ihre Arbeit mit dem Pulitzer-Preis für Öffentlichkeitsarbeit sowie mit vielen anderen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Deutsche Welle Freedom of Speech Award.

Der ukrainische Beitrag für die Oscars

Mstyslav Chernov hat sein Videomaterial zu einem Film gemacht. "20 Tage in Mariupol" wurde als ukrainischer Beitrag für die Oscar-Verleihung 2024 als "Bester Internationaler Film" eingereicht.

Der Film, der nach seiner Premiere auf dem Sundance-Festival den Publikumspreis und später auch den Dokumentarfilmpreis "World Cinema" gewonnen hat, feierte seine Deutschlandpremiere auf dem Human Rights Film Festival in Berlin (11. - 22. Oktober 2023), wo die DW den Regisseur traf.

Regisseur Msyslav Chernov und Human-Rights-Film-Festival-Berlin-Direktorin Anna Ramskogler-Witt posieren bei der Eröffnung des Festivals für die Kamera.
Regisseur Msyslav Chernov und Human-Rights-Film-Festival-Berlin Direktorin Anna Ramskogler-WittBild: HRFFB/Dovile Sermokas

Der Dokumentarfilm geht weit über die Nachrichtenberichte hinaus, in denen das Material von AP weltweit verbreitet wurde. "Das war einer der Hauptgründe, warum dieser Film gemacht werden musste", sagt Chernov. "Die Eindrücke, die man von ein- oder zweiminütigen Nachrichten erhält, sind ganz anders als das, was man fühlt und versteht, wenn man 95 Minuten sieht" - was, wie er sagt, "immer noch nicht genug ist, um über all die Tragödien zu sprechen, die in Mariupol passiert sind, selbst die 30 Stunden Videomaterial, die ich aus der Stadt herausschaffen konnte, sind nicht genug."

Beweise für die Gräueltaten verschwinden

Die Zahl der Todesopfer durch die Belagerung der Hafenstadt variiert; im Film heißt es, dass mehr als 25.000 Menschen getötet worden sind. Nach UN-Schätzungen wurden 90 Prozent der Wohnhäuser der Stadt und 60 Prozent der Einfamilienhäuser in Mariupol beschädigt. Inzwischen reiße Russland die zerstörten Gebäude ab und baue neue, "nur um positive Bilder zu generieren", so Chernov. So lösche Russland alles aus, was helfen könnte, das Ausmaß der von Russland begangenen Kriegsverbrechen zu ermitteln. "Mit jedem Tag, der vergeht, bleiben weniger und weniger Beweise übrig."

Filmstill: Ein Fotograf geht zwischen abgestorbenen Bäumen und Trümmern durch den Nebel
Trümmer und Schutt in MariupolBild: 20 Days in Mariupol/HRFFB

Ein Krieg der Lügen

"20 Tage in Mariupol" schildert nicht nur, wie eine moderne europäische Stadt in Schutt und Asche gelegt wurde, wie Kinder den Raketen zum Opfer fielen und wie Massengräber angelegt werden mussten, um Tausende von Menschen zu begraben. Der Film macht auch deutlich, wie Russland die Ereignisse zu seinem Vorteil in Szene setzte.

Zu Beginn des Films wird Wladimir Putin gezeigt, wie er in einer Fernsehansprache zum Start der Invasion erklärt, dass seine "spezielle Militäroperation" absolut notwendig sei, da Russland sonst zuerst angegriffen würde.

Szenen wie diese, die zeigen, dass der gesamte Konflikt auf Putins Lügen beruht, machen die Bilder von seinen blutigen Auswirkungen noch grausamer.

Als das medizinische Team in einem Krankenhaus verzweifelt versucht, ein von russischen Granaten schwer verwundetes Kleinkind wiederzubeleben oder einen Teenager zu operieren, dem beim Fußballspielen die Beine weggesprengt wurden, fordert der Chefchirurg Chernov auf, jedes blutige Detail zu filmen: "Zeig diesem Putin-Bastard die Augen dieses Kindes", schreit er. "Zeigen Sie, was diese Schweine den Zivilisten antun!" Chernov betont es auch im Film: "Dies zu sehen, ist sehr schmerzhaft. Aber es m u s s schmerzhaft sein."

Darstellung der globalen "Informationskriege"

Den ukrainischen Reportern gelang es mit Mühe, ihre Berichte an westliche Medien zu senden. Es war lebensgefährlich, da manche Orte, an denen das Internet noch verfügbar war, nicht sicher waren.

Russland hatte die Bilder schnell als "Fake News" bezeichnet. Als sie veröffentlicht wurden, twitterte die russische Botschaft in London, dass die schwangere Frau auf den AP-Bildern eine Schauspielerin sei.

Der Dokumentarfilm zeigt auch einen Ausschnitt, in dem ein britischer Journalist den Botschafter des Kremls bei den Vereinten Nationen, Vasily Nebenzya, mit Chernovs Aufnahmen konfrontiert; der Diplomat tut die Frage nach der Tötung von Babys als "Informationskrieg" ab.

Filmstill: Ein Mensch zeigt aus einem Fenster auf die Stadt, wo Rauchsäulen aufsteigen. Im Vordergrund ein Banner mit der Aufschrift "Presse".
Das Filmteam erlebte die russische Belagerung hautnahBild: 20 Days in Mariupol/HRFFB

"Es ist unmöglich, die Geschichte von Mariupol vollständig zu erzählen, ohne die vielen Fehlinformationen und Fehlinterpretationen zu erwähnen", sagt Chernov der DW. Er betont jedoch, dass es in seinem Film nicht in erster Linie um Journalismus geht: "Es ist die Geschichte meines Volkes, das in der Falle saß, getötet wurde und seine Heimat verloren hat", sagt der Regisseur, der in Charkiw geboren wurde, einer weiteren Grenzstadt, die von der russischen Armee schwer verwüstet wurde.

"20 Tage in Mariupol" beschreibt auch ein modernes Phänomen, das der Arbeit von Journalisten weltweit schadet: Fake News "verunreinigen" die Berichterstattung über alle strittigen und sensiblen Themen. So geschieht es derzeit auch im Nahen Osten.

Der Kampf der Ukraine geht weiter

Die Aufmerksamkeit der Welt hat sich zurzeit verlagert - auf den Konflikt zwischen Israel und der Hamas. Auf die Frage, ob er befürchte, dass die Welt die Ukraine vergisst, wenn der Nahe Osten in Flammen steht, gibt sich der Kriegsreporter realistisch: "Die Verschiebung der Aufmerksamkeit der Medien war unvermeidlich. Wir arbeiten in der Nachrichtenbranche. Wir wissen, dass sich die Aufmerksamkeit verschiebt und später zurückkommt." Zudem, so Chernov weiter, hänge ein Teil der europäischen Gesellschaft dem Irrglauben an, dass der Krieg aufhören und Friedensverhandlungen stattfinden würden, wenn nur keine Waffen mehr an die Ukraine geliefert würden: "Das glaube ich nicht. Die Ukrainer kämpfen um ihr Überleben. Es würde also nur bedeuten, dass mehr Ukrainer sterben werden, weil niemand hilft."

Ob der Film "20 Tage in Mariupol" es auf die Oscar-Shortlist schafft, wird am 21. Dezember verkündet, die endgültigen Nominierungen für den Oscar werden am 23. Januar 2024 bekanntgegeben.

Aus dem Englischen adaptiert von Silke Wünsch.