1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Wir schicken die Syrer zurück"

19. April 2023

Nach offiziellen Angaben leben in der Türkei etwa 5,5 Millionen Flüchtlinge, darunter viele Syrer. Vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai machen fast alle Parteien Stimmung gegen sie.

https://p.dw.com/p/4QHNB
Viele Menschen, darunter syrische Frauen, in einem Basar in Uzun Carşı, Antakya
Fast 90 Prozent der Türken sind für die Rückkehr der syrischen FlüchtlingeBild: Felat Bozarslan/DW

9. April im Istanbuler Stadtteil Bagcilar. Vor einer blau umrahmten Tür stehen ein paar Männer. Einer von ihnen, ein großer und sehr aufgeregter, ruft: "Kann ich nach Syrien gehen und dort jemanden töten?", fragt er laut und antwortet selbst: "Nein". Er ist wütend. Sein Bruder, ein Textilarbeiter, kam bei einer Auseinandersetzung zwischen zwei Gruppen ums Leben. Er wurde erschossen von einem Syrer.

Sinan Ogan, Präsidentschaftskandidat vom rechtsnationalistischen Ata-Bündnis ist zu Besuch bei der Familie. "Ich verspreche Ihnen, wir werden die Syrer so schnell wie möglich zurückschicken. Wir werden nicht zulassen, dass noch ein Türke von einem Syrer ermordet wird", sagt er.

Der 55-jährige Politiker Ogan ist einer von vier Präsidentschaftskandidaten, die bei den Wahlen am 14. Mai antreten. Ogan stammt ursprünglich aus der Ülkücü-Bewegung, in Deutschland eher bekannt als Graue Wölfe. Nach einem innerparteilichen Machtkampf war er aus seiner ultranationalistischen Partei MHP rausgeworfen worden. Seine Zustimmungswerte pendeln laut Umfragen derzeit zwischen 1,3 bis 2,5 Prozent.

Sinan Ogan hinter einem Mikrofon bei einer Rede
Ogan betreibt Wahlkampf auf dem Rücken der Flüchtlinge.Bild: Burhan Ozbilici/AP Photo/picture alliance

Nicht nur Ogan und sein rechtspopulistisches Bündnis machen Stimmung gegen Flüchtlinge. Fast alle Parteien treten mit dem Versprechen an, nach einem Wahlsieg fast vier Millionen Syrer umgehend in ihre Heimat zurück zu schicken. Nur das prokurdische Grün-Links-Bündnis ist dagegen. 

Kilicdaroglu will Rückkehr mit Asad verhandeln

Vor allem Kemal Kilicdaroglu, Chef der Oppositionspartei CHP und Präsidentschaftskandidat der größten Oppositionsallianz hat den Unmut in der Bevölkerung früh gespürt und schon vor einigen Jahren die Flüchtlingspolitik zu einem seiner Schwerpunkte gemacht. Er verspricht, nach einem Sieg mit dem syrischen Regime über die Rückkehr der Flüchtlinge zu verhandeln. Auch ins Wahlprogramm hat sein Bündnis diesen Punkt aufgenommen. Außerdem will das Bündnis den Flüchtlingspakt mit der EU überprüfen. Mit Drittländern soll ein eigenes Rückführungsabkommen abgeschlossen werden. Darüber hinaus will das Bündnis die "löchrigen" Grenzübergänge mit neuen Technologien und Drohnen  überwachen und wenn nötig, Mauern hochziehen, um unkontrollierte Migration zu verhindern. Auch Visaerleichterung mit diversen Staaten sollen auf den Prüfstand.

Die regierende AKP nahm bis vor einem Jahr noch die Syrer in Schutz. Sie sah in ihnen vor allem billige Arbeitskräfte, die für die türkische Wirtschaft unabdingbar seien. Durch die Wirtschaftskrise, Inflation und Armut sinkt in der Gesellschaft jedoch die Akzeptanz für die Syrer, was zum Umlenken der AKP führte. 

Kemal Kilicdaroglu spricht auf einer Bühne in ein Mikrofon
Kemal Kilicdaroglu, Präsidentschaftskandidat der größten Oppositionsallianz, will Recep Tayyip Erdogan herausfordern.Bild: DHA

"Mit der Erkenntnis, dass die Syrer doch nicht nach ein paar Jahren zurückkehren, kippte die Stimmung", erklärt Migrationsforscher Murat Erdogan von der Universität Ankara. Ihm zufolge entdeckten zunächst die Oppositionsparteien die wachsende Missstimmung in der Bevölkerung für sich. Nachdem sie mit dem Flüchtlingsthema in der Wählergunst punkteten, griff auch die Regierungspartei AKP dies auf. Präsident Recep Tayyip Erdogan kündigte an, eine freiwillige und sichere Rückreise der Syrer vorzubereiten. Die illegale Migration wolle seine Partei, wie bisher, entschieden bekämpfen. "In der letzten Zeit prahlt die AKP mit hohen Abschiebezahlen", erklärt der Migrationsforscher.  

Fast 90 Prozent für die Rückkehr der Syrer

Murat Erdogan führt seit fünf Jahren die Studie "Syrer-Barometer" durch, untersucht die Lebenswelten der Türken und Syrer und nimmt das Zusammenleben im Land unter die Lupe. "Wir stellen jedes Jahr die Frage, wie wichtig das Flüchtlingsthema für die türkische Gesellschaft ist", sagt der Wissenschaftler im Interview mit der DW. Bisher landete es seinen Angaben nach immer unter den ersten drei oder vier. "In der aktuellen Studie klettert es auf den Platz zwei, direkt nach der Wirtschaftskrise", fügt Erdogan hinzu. 

Hat die Flüchtlingspolitik der Parteien Auswirkungen auf das Wahlverhalten der Wähler, wollten er und seine Kollegen wissen. "Bis zu 60 Prozent der Teilnehmenden haben dies bejaht", berichtet der Wissenschaftler. Das Thema biete politischen Parteien viel Raum, sich zu profilieren, vor allem, wenn es ein knappes Rennen wird.  

Laut Syrer-Barometer wünschen sich mehr als 88,5 Prozent der Türken die Rückkehr der syrischen Flüchtlinge. Auch 85 Prozent der AKP-Wähler unterstützen diese Forderung.  

Keine realistische Forderung

Dabei hält der Migrationsforscher Murat Erdogan die Rückkehr von Syrern für höchst unrealistisch. Seinen Angaben nach leben derzeit in der Türkei mehr als 3,5 Millionen Syrer, die einen temporären Schutz haben. Hinzu kämen 100.000 mit einem gültigen Aufenthaltstitel. Etwa 200.000 bis 300.000 seien eingebürgert. Insgesamt also knapp vier Millionen.

Straßenansicht von einem Obst und Gemüsegeschäft
Mehr als 55 Prozent der syrischen Flüchtlinge wollen die Türkei verlassen.Bild: Felat Bozarslan/DW

Die Zahl der irregulären Flüchtlinge beträgt Erdogan zufolge circa 400.000. Diese stammen vor allem aus Afghanistan, Pakistan, Irak und aus Afrika. Dazu kommen noch etwa eine Million Flüchtlinge, die auf Abschiebung warten.

Somit kommt der Migrationsforscher aus Ankara auf insgesamt 5,5 Millionen Flüchtlinge, die sich derzeit in der Türkei aufhalten. "Kein anderes Land auf der Welt hat so viele Flüchtlinge aufgenommen wie die Türkei", wiederholt er. Diese große Herausforderung hätte auch Deutschland nicht bewältigen können.

Viele Syrer leben mittlerweile seit mehr als 10 Jahren im Land. Ihre Kinder besuchen Schulen, die Erwachsenen gehen einem Beruf nach, auch wenn sie überwiegend illegal beschäftigt werden. "Sie zurückzuschicken, innerhalb von wenigen Jahren, wie die Parteien behaupten, ist unmöglich", wiederholt der Migrationsforscher Erdogan. Fast 900.000 Kinder seien in der Türkei zur Welt gekommen, für sie sei Syrien keine Heimat.

Flüchtlinge werden Opfer von Gewalttaten

Die galoppierende Inflation, eine hohe Arbeitslosigkeit und Armut machen den Menschen in der Türkei das Leben schwer. Mit dem Niedrigzinsmodel von Präsident Recep Tayyip Erdogan stürzte die Wirtschaft in eine tiefe Krise. Die Kaufkraft schwindet rasant, die Armut kommt auch in der Mitte der Gesellschaft an.

Vor allem die rechtspopulistischen und nationalistischen Parteien nutzen die Gunst der Stunde und nutzen die angespannte Lage für ihre Zwecke. Sie verbreiten Ausländerhass und schüren Angst vor Überfremdung. "Die Türkei ist von jungen fremden Männern einverleibt worden", behaupten sie.

Die anfängliche Kritik schlug auch in Gewalt um. Im August 2021 hatte ein Mob syrische Geschäfte in Ankara verwüstet, weil die Inhaber angeblich keine Steuern zahlen und von staatlichen Hilfen leben würden. Mitte Januar 2022 erstach eine maskierte Gruppe den 19-jährigen Syrer Nail Alnaif in Istanbul, als er in seiner Wohnung schlief. Im Juni 2022 haben türkische Sicherheitskräfte auf 35 Flüchtlinge in der Stadt Osmaniye geschossen, weil sie angeblich aus dem Flüchtlingsheim zu fliehen versuchten. Auch kurz nach den großen Erdbeben im Februar wurden viele Flüchtlingen für Plünderer gehalten und erfuhren Gewalt.   

Syrer wollen nach Europa

Migrationsforschern zufolge wirkt sich diese Stimmung auf die Fluchtbewegung aus. Immer mehr Flüchtlinge wollen die Türkei verlassen, vor allem Richtung Europa. "In Syrien sehen diese keine Zukunft, in der Türkei fühlen sie sich unsicher", sagt auch Migrationsforscher Erdogan. Vor vier Jahren wollten laut Syrer-Barometer 25 Prozent die Türkei verlassen und in ein Drittland auswandern. Bei der aktuellen Studie seien es 55 Prozent. Murat Erdogan glaubt: "Wenn wir sie jetzt fragen würden, würde es sicher die 70-Prozent-Marke übersteigen."

Elmas Topcu | Journalistin
Elmas Topcu Reporterin und Redakteurin mit Blick auf die Türkei und deutsch-türkische Beziehungen@topcuelmas