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PolitikTürkei

Der Mann, der Erdogan entmachten soll

Burak Ünveren | Gülsen Solaker
6. März 2023

Die türkische Opposition findet endlich ihren Kandidaten gegen den amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdogan: Ein Porträt über Kemal Kilicdaroglu, der in 70 Tagen die Wahlen in der Türkei gewinnen soll.

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Kemal Kilicdaroglu hält eine Rede in einer Veranstaltung
Kemal Kilicdaroglu soll die kritische Wahl gegen Recep Tayyip Erdogan gewinnenBild: Dilara SenkayaREUTERS

Die Opposition ist seit langer Zeit auf der Suche nach einem gemeinsamen Kandidaten, der bei den kommenden Wahlen den langjährigen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan herausfordern soll. Endlich scheint sie ihn gefunden zu haben: Der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP), Kemal Kilicdaroglu, wird am 14. Mai gegen Erdogan antreten.

Wer ist aber der Mann, der Erdogan, der seit über 20 Jahren an der Macht ist, entmachten soll? 

"Bürokrat des Jahres"

Kemal Kilicdaroglu wurde als Beamtenkind 1948 in einem Dorf in der ostanatolischen Region Tunceli geboren. Er stammt aus einer alevitischen Familie. Die Aleviten sind eine ethnisch-religiöse Minderheit in der Türkei. Er ist das vierte von sieben Kindern und der einzige in der Familie, der studierte: In Ankara machte er seinen Abschluss in Wirtschaft und Finanzen und stieg 1971 als Referent im türkischen Finanzministerium ins Berufsleben ein. Er stieg in der türkischen Verwaltung schrittweise auf und wurde 1992 Direktor der Behörde für Soziale Versicherungen (SSK). 1994 wurde er von einer Finanzzeitschrift als der "Bürokrat des Jahres" bezeichnet. 1999 ging er in Pension.

Schwarzweißaufnahme von Kemal Kilicdaroglu als Kind
Kemal Kilicdaroglu in seiner KindheitBild: DHA

Schon immer ist er bekannt für seine Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit - keine selbstverständlichen Eigenschaften in der Politik, besonders in der türkischen. Als Bürokrat bekämpfte er Korruption. Dank seiner langjährigen Tätigkeit im Versicherungswesen soll er auch die Fähigkeit erworben haben, eine Stecknadel in einem Heuhaufen zu finden: "In einem Raum voller Behördenakten kann Kilicdaroglu alle Unregelmäßigkeiten und Korruptionen blitzschnell finden", so ein CHP-Mitglied im Gespräch mit der DW: "Und dabei ehrlich zu bleiben ist nicht nur eine Tugend, sondern eine notwendige Aufgabe."

Eine neue politische Karriere

Kilicdaroglu machte sich in der Öffentlichkeit einen Namen als der Anti-Korruptions-Bürokrat. Seine politische Karriere begann, als er auf Anfrage der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP einen Korruptionsbericht vorbereitete. Der Bericht kam bei dem damaligen Parteivorsitzenden Deniz Baykal gut an und veranlasste Kilicdaroglus Einstieg in die Politik. Sein erster Einzug in das türkische Parlament erfolgte nach der Wahl 2002, in der der amtierende Präsident Erdogan an die Macht kam.

2007 wurde er zum stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der CHP. Seine Medienpräsenz nahm stark zu, als er mehrere Beweise über Korruption im Land veröffentlichte. Auch die Wortgefechte mit mehreren Abgeordneten aus den Reihen von Erdogans islamisch-konservativer Partei AKP trugen zu seiner Berühmtheit bei. 2009 kandidierte er für die Istanbuler Bürgermeisterschaft und verlor gegen den AKP-Kandidaten.

Kemal Kilicdaroglu tritt vor die Presse und hält Dokumente in seiner Hand, die Korruption beweisen soll
Kilicdaroglu machte sich einen Namen als der Politiker, der Korruption bekämpftBild: DHA

Parteivorsitzender dank eines Sextapes

Als 2010 ein Sex-Skandal den langjährigen CHP-Parteivorsitzenden Deniz Baykal sein Amt kostete, trat Kilicdaroglu als Kandidat für den Parteivorsitz an. Auf dem Parteitag bekam er alle 1189 gültigen Stimmen. Obwohl damals die überwiegende Mehrheit der CHP-Anhänger seine Kandidatur unterstützten, nahm seine Beliebtheit seitdem ab. Heute ist die Parteibasis eher gespalten, was Kilicdaroglu angeht.

Er gewann an internationaler Bekanntheit, als er 2017 zu Fuß von Ankara nach Istanbul lief. Etwa 420 Kilometer war er mit seinen Anhängern im Rahmen der Protestaktion "Gerechtigkeitsmarsch" unterwegs, die auf die zunehmenden Repressionen durch die AKP-Regierung aufmerksam machen wollte. Anlass für den 25-tägigen Marsch war die Gefängnisstrafe für den CHP-Politiker und Journalisten Enis Berberoglu.

"Ich ärgere mich nie"

Kilicdaroglu, der der 13. Präsident der Republik werden könnte, ist auch für seine Ruhe bekannt. Zu seinen Spitznamen in der Öffentlichkeit zählen "Gandhi-Kemal" aufgrund seiner vermeintlichen Ähnlichkeit in Aussehen und Stil mit Mahatma Gandhi oder "Die ruhige Macht" sowie "Demokratischer Onkel".

Einmal äußerte er in einem Interview, dass er "sich nie ärgere". Seine Frau bestätigte dies mit den folgenden Worten: "Er ist nett und sehr ruhig. Bisschen zu ruhig. Kemal erhebt nie seine Stimme, er schreit nie. Sie können mit dem Mann nicht mal schön streiten. Dass er so ruhig ist, macht mich manchmal richtig wahnsinnig", so Selvi Kilicdaroglu.

Selvi und Kemal Kilicdaroglu 2018 auf dem CHP-Parteitag vor einer Menschenmenge in Ankara
Selvi und Kemal Kilicdaroglu auf dem CHP-Parteitag in Ankara 2018Bild: picture-alliance/abaca/M. Kaynak

Der CHP-Abgeordnete und stellvertretende Vorsitzende Bülent Kusoglu kennt Kilicdaroglu seit Jahren. "Mit ihm zu arbeiten scheint einfach zu sein - es ist aber eher schwierig. Er ist äußerst geduldig, entschlossen, detailorientiert und fleißig", so Kusoglu im Gespräch mit der DW.

Außerdem gilt er als der Politiker, auf den in der politischen Geschichte der Türkei die meisten physischen Angriffe oder Attentate vergeübt wurden. Dazu zählt der Lynchversuch 2019 in Ankara. Im Gespräch mit der DW beschreibt ein CHP-Politiker, wie Kilicdaroglu nach dem Angriff wirkte: "Wir warteten vor seiner Tür. Er kam raus. Er hatte blaue Flecken im Gesicht. Er sah gar nicht unglücklich aus. Er hat uns in sein Büro eingeladen und für uns Tee bestellt. Er meinte, es sei nichts zu übertreiben. Wir waren emotionaler und wütender als er. Er war aber ganz ruhig. Als ob wir den Lynchversuch überlebt hatten und nicht er."

Kilicdaroglu überlebte bisher einen bewaffneten Angriff durch die Kurdenmiliz PKK, einen Angriff im Parlament sowie den Versuch eines Bombenanschlags durch den IS (Islamischer Staat) während seines Gerechtigkeitsmarsches.

Der beste Kandidat?

Trotz des positiven Images wird Kilicdaroglu in der Öffentlichkeit schon seit Jahren vorgeworfen, nicht charismatisch genug zu sein, um gegen Erdogan eine greifbare Alternative darzustellen.

Seine Kandidatur verursachte bereits Uneinigkeit im Oppositionsbündnis, das aus sechs Oppositionsparteien besteht. Die CHP und fünf weitere Oppositionsparteien arbeiten seit über einem Jahr zusammen, um ihre Gewinnchance gegen Erdogan zu erhöhen. Diese Parteien trafen sich mehrmals an dem sogenannten "Sechsertisch".

Allerdings ist aus dem "Sechsertisch" fast ein "Fünfertisch" geworden: Die zweitgrößte Partei am Tisch, die nationalistisch orientierte Iyi-Partei, drohte die Runde zu verlassen, nachdem feststand, dass Kilicdaroglu sich durchsetzte. Die Iyi-Chefin Meral Aksener setzt sich schon seit Monaten gegen die Kandidatur Kilicdaroglus ein. In der Vergangenheit sagte sie, dass jemand kandideren sollte, der "gegen Erdogan gewinnen kann." Kilicdaroglu passe zu dieser Beschreibung aus Akseners Sicht nicht, im Gegensatz zum Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu und seinem Amtskollegen aus Ankara, Mansur Yavas. Tatsächlich konnte Kilicdaroglu nie eine Wahl für sich entscheiden.

Meral Aksener und Ekrem Imamoglu
Meral Aksener und Ekrem ImamogluBild: Dilara Senkaya/REUTERS

Nach vielen Verhandlungen hinter den Kulissen scheint die Krise in der Opposition vorerst beseitigt zu sein: Aksener sitzt nun wieder am Tisch und unterstützt die Kandidatur von Kilicdaroglu nun doch. Der Konsenz: Imamoglu und Yavas sollen künftig zu "stellvertretenden Präsidenten" ernannt werden. Beide gewannen 2019 die Bürgermeisterämter der zwei größten Städte der Türkei und genießen in der Gesellschaft große Unterstützung. Der Plan der Opposition ist, dass sie Kilicdaroglus Kandidatur stärken. Auch die anderen fünf Vorsitzenden der Sechsertisch-Parteien sollen zu "stellvertretende Präsidenten" ernannt werden. Nach der türkischen Verfassung darf der Präsident unendlich viele Stellvertreter ernennen. Ob die angeschlagene Einigkeit für einen Wahlsieg reicht, wird sich in wenigen Wochen zeigen. 

DW Mitarbeiter l Burak Ünveren, DW-Journalist
Burak Ünveren Redakteur. Themenschwerpunkte: Türkische Außenpolitik, Deutsch-Türkische Beziehungen.