Schulden machen für Europa
18. Mai 2020"Es ist die schwerste Krise in der Geschichte Europas", sagt die Bundeskanzlerin lapidar - und sie erfordere Antworten. Damit man "gut und gestärkt" aus der Krise herauskomme, fügt Angela Merkel hinzu, müsse man zusammenarbeiten. Und wenn Deutschland und Frankreich sich einigten, könne das die Meinungsfindung der 27 Mitgliedsländer befördern - ein Hinweis auf den bitteren Streit der vergangenen Wochen. Zusammen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron fordert sie, dass die EU aus ihrem Haushalt 500 Milliarden Euro für einen Corona-Wiederaufbaufonds bereitstellt - und sich dafür entsprechend verschuldet.
Nach einigen schwierigen Videokonferenzen, bei denen die Meinungen unter den EU-Regierungen dramatisch auseinanderliefen und eine Einigung kaum möglich schien, versuchen Merkel und Macron es jetzt mit dem deutsch-französischen Motor. "Es ist ein strategischer Wandel", erklärt Macron den gemeinsamen Vorschlag, wonach die Milliarden aus dem europäischen Haushalt direkt an die am stärksten von den Corona-Folgen betroffenen Mitgliedsländer gezahlt werden sollen.
Zuschüsse statt Kredite
Damit würde die Forderung von Italien und anderen Südländern erfüllt, ihre nationale Schuldenlast nicht weiter erhöhen zu müssen. Die Regierungen in Madrid und Rom verlangen am lautesten nach Hilfe aus europäischen Töpfen, wollen aber mindestens doppelt so viel wie jetzt vorgeschlagen. Zumindest versprechen Merkel und Macron ihnen jetzt Zuschüsse statt Kredite.
Die Mittel sollen an "die am schwersten betroffenen Sektoren und Regionen gehen", betont der französische Präsident, so dass zum Beispiel die darniederliegende italienische Tourismusbranche direkt unterstützt werden könne. Die Details sollte die EU-Kommission in Brüssel ausarbeiten, weil sie Erfahrung hat mit der Vergabe von Kohäsionsfonds, die üblicherweise ärmeren Regionen helfen und so den Zusammenhalt der EU stärken sollen.
Die Bundeskanzlerin bringt hier auch die Zukunftsfähigkeit der EU ins Spiel - sie will nicht nur existierende Industrien in Europa am Leben erhalten, sondern gleichzeitig in die Modernisierung zu investieren. "Digitalisierung, der Green Deal, der Kampf gegen den Klimawandel " - Merkel nennt die Vorhaben, die vor Corona auf dem Programm standen. Wie viel aber in den Erhalt des Bestehenden und wie viel in Zukunftstechnologien fließt - das muss später im Einzelnen ausgehandelt werden.
Die Enkel zahlen zurück
Es sei technisch nicht ganz einfach gewesen, diesen Plan auszuarbeiten, räumt die Bundeskanzlerin ein, aber bei seiner Umsetzung würden die nationalen Parlamentsvorbehalte gewahrt. Nach dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichtes müsse man rechtlich aufpassen. So werde der Bundestag mit abstimmen, wenn der neue europäische Haushalt bewilligt werden muss, und das betreffe auch den zusätzlichen finanziellen Spielraum für den Corona-Wiederaufbaufonds.
Die Laufzeit für den Corona-Kredit der EU soll bis zu zwanzig Jahre betragen - die Bundeskanzlerin sprach von einer "sehr langen Zeit". Die Rückzahlung fiele also noch an Kinder und Enkel - Deutschland ist mit seinem anteiligen EU-Haushaltsschlüssel von 27 Prozent dabei.
Geplant sind jetzt im ersten Schritt erhöhte Beitragszahlungen der EU-Länder von etwa 50 Milliarden Euro. Auf dieser Basis soll dann Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an den Finanzmärkten Schulden bis zu 500 Milliarden Euro aufnehmen. Noch unklar ist, wie die Juristen in Brüssel um die größte rechtliche Klippe herumkommen wollen, denn die EU-Verträge verbieten europäischen Institutionen, Schulden zu machen. Die nächsten Klagen vor den obersten Gerichten sind absehbar.
Politisch handlungsfähig bleiben
Der französische Präsident und die deutsche Bundeskanzlerin machen deutlich, dass es bei diesem Hilfsfonds darum geht, politische Handlungsfähigkeit zu zeigen. Nach der Finanzkrise, sagt Emmanuel Macron, sei die Erholung asymmetrisch verlaufen. Manche EU-Mitgliedsländer hätten besonders harte Maßnahmen ergreifen müssen. Und jetzt gebe es Menschen, die die erneute Krise als Vorwand nutzten, um die demokratische Idee und die Grundpfeiler Europas anzugreifen. "Manchmal ist es schwer, wir stehen vor vielen Lügen und Angriffen. Wir dürfen da nicht nachlassen und müssen größere Risiken eingehen", das stehe im Zentrum dieser gemeinsamen Initiative.
Auch Angela Merkel bezieht sich auf extreme und extremistische Positionen bei Demonstrationen und in den sozialen Netzwerken: "Es gibt Menschen, die wollen kein gestärktes Europa." Die Krise sei auch eine Zeit des Kampfes, da müsse man Positionen klar benennen: "Es gibt Verschwörungstheorien, rechts- und linksextreme Theorien, damit müssen wir uns jeden Tag auseinandersetzen." Beide Regierungschefs zeigen ihre Betroffenheit angesichts der Wellen von Hass und Widerstand, die derzeit zu beobachten sind.
Zwischen Skepsis und Anerkennung
Eine erste Reaktion aus dem Europaparlament (EP) fällt skeptisch aus angesichts des Umfangs der deutsch-französischen Initiative. Das EP hatte viermal so viel, nämlich zwei Billionen Euro, für den Wiederaufbaufonds verlangt: "Wir brauchen neben dem Recovery Fonds einen strukturell gestärkten EU-Haushalt. Ausschließlich auf eine Zwei- bis Drei-Jahres-Lösung (bezogen auf die Laufzeit des Fonds) zu setzen, wird nicht ausreichen", erklärt der Haushaltssprecher der Grünen, Rasmus Andresen. Er sei auch gespannt, ob es Merkel und Macron gelingen werde, für ihren Plan die Zustimmung der übrigen Länder im Rat der Regierungen zu bekommen.
Die AfD-Fraktion im Europaparlament weist auf den Artikel 311 der Verträge hin, in dem das Verschuldungsverbot verankert ist. "Merkel und Macron biegen, beugen und brechen EU-Recht", kritisiert sie.
Die EU-Kommission wiederum begrüßt den Vorstoß aus Paris und Berlin, er gehe in die richtige Richtung. Auf dieser Basis kann sie nächste Woche schließlich ihren Vorschlag für den EU-Haushalt samt Corona-Fonds vorstellen, der schon Anfang Mai hätte kommen sollen. Jetzt weiß sie zumindest die beiden großen Mitgliedsländer auf ihrer Seite, was die schwierige Aufgabe etwas erleichtert.