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PolitikEuropa

Solidarität trotz aller Differenzen

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Erkan Arikan
15. März 2022

Eine Reise in die Türkei ist für einen Bundeskanzler immer eine Gratwanderung. Aber bei allen Differenzen kommt es derzeit angesichts des Kriegs in der Ukraine auf das Verbindende an, meint Erkan Arikan.

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Bundeskanzler Olaf Scholz und Recep Tayyip Erdogan an den Rednerpulten im Pressesaal des türkischen Präsidentenpalastes. Hinter ihnen türkische und deutsche Flaggen
Scholz (li) und Erdogan ging es vor allem darum, Harmonie zu zeigenBild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Der Zeitpunkt des Antrittsbesuchs des Bundeskanzlers beim türkischen Staatspräsidenten war überraschend - doch die Visite jetzt war richtig und wichtig. Denn in Kriegszeiten müssen Partner zusammenhalten, auch wenn ansonsten dicke Luft zwischen ihnen herrscht. Und insofern war natürlich der Angriff Russlands auf die Ukraine der eigentliche Grund für den Tagesausflug von Olaf Scholz in die türkische Hauptstadt.

Eigentlich hatte die neue Koalition vollmundig verkündet, dass sie gegenüber Ankara distanzierter und kritischer als die Regierung Merkel auftreten werde - Menschenrechte und Pressefreiheit in der Türkei sollten im Vordergrund stehen. Doch der Ukraine-Krieg hat diesen Plan auf den Kopf gestellt. Die Grundrechte in der Türkei standen zwar auf der Gesprächsagenda, blieben aber eine Randnotiz.

Neuer Kanzler, neue Zeiten

Bundeskanzler Scholz gab Erdogan mit seinem Besuch die Gelegenheit, die Türkei aus ihrer außenpolitischen Isolation herauszuholen und die aggressive Politik, die der türkische Präsident in den vergangenen Jahren betrieben hat, zu überwinden. Erdogan ist wieder zurück auf der Bühne der internationalen Diplomatie. Natürlich durfte Erdogan darauf hoffen, dass nach 16 Jahren Kanzlerschaft von Angela Merkel eine neue Zeit in den Beziehungen mit Deutschland anbrechen würde. Doch der Ukraine-Krieg hat die Offenheit der neuen Bundesregierung hierfür deutlich erhöht.

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Erkan Arikan leitet die Türkische RedaktionBild: DW/B. Scheid

Aber auch sonst waren Erdogan und seine Berater nicht untätig: Nach über 14 Jahren war in der vergangenen Woche erstmals wieder ein israelischer Präsident in Ankara zu Gast. Und auch der griechische Staatschef Mitsotakis kam am vergangenen Wochenende vorbei - trotz syrischer Flüchtlinge, die weiterhin in regelmäßigen Abständen über die Ägäis nach Griechenland flüchten oder den umstrittenen Bohrungen nach Erdgas im Mittelmeer. Zum Abschluss erklärten Erdogan und Mitsotakis, sie wollten im Dialog bleiben - "nicht nur in Kriegszeiten".

Auch bei der gemeinsamen Pressekonferenz von Scholz und Erdogan ist deutlich geworden: Beide haben sich nach einer langen Zeit deutsch-türkischer Verstimmungen in einer freundlichen Atmosphäre getroffen. Keine gegenseitigen Vorwürfe, keine Rechtfertigungen für verschiedene Meinungen und Differenzen. Tatsache ist, dass Scholz die Wende der türkischen Außenpolitik in den vergangenen Wochen mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen hat. Ist das ein Zugeständnis an den Autokraten? Ja, gewiss. Aber klar ist auch: Der Besuch war in erster Linie eine Maßnahme im Rahmen der Krisendiplomatie.

Erdogan braucht Erfolge

Die Türkei durchlebt seit Jahren eine ihrer schwersten Wirtschaftskrisen. Viele Menschen im Land leiden unter der Niedrigzinspolitik Erdogans, rasanten Preiserhöhungen, einer exorbitant hohen Inflation. Insofern muss Erdogan jetzt neue Türen öffnen, um aus seiner selbstverschuldeten Isolation herauszukommen.

Zweifellos hat der Überfall Putins auf die Ukraine den Westen überrascht. Jetzt kann aber auch der Westen Russland mit seiner Solidarität für Wolodymyr Selenskyj und das ukrainische Volk überraschen. Genau aus diesem Grund war der Besuch von Bundeskanzler Scholz in Ankara auch für den Westen wichtig.

Menschenrechtsverletzungen in der Türkei

Unbestritten bestehen weiterhin massive Defizite im türkischen Rechtssystem. Presse- und Meinungsfreiheit existieren nur auf dem Papier, Grundrechte sind Mangelware. Bestes Beispiel ist das Gefängnis in Silivri, westlich von Istanbul: der Ort, an dem die klügsten und kreativsten Menschen des Landes hinter Gittern sitzen. Und ausgerechnet die Türkei, in der jedes Jahr Hunderte von Frauen von ihren Männern, Vätern oder Freunden ermordet werden, hat auf Wunsch ihres Präsidenten die "Istanbul-Konvention" des Europarates zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen verlassen. Nicht zuletzt auch das: Dutzende demokratisch gewählter Bürgermeister in kurdischen Gemeinden wurden inhaftiert und an ihrer Stelle Zwangsverwalter ernannt.

Die Liste der Verfehlungen der Türkei ist lang. Die neue Bundesregierung kennt sie - alles Themen, die zeitnah wieder auf die politische Agenda von Bundeskanzler Scholz kommen müssen. Aber die oberste Priorität kann zu diesem Zeitpunkt nur sein, das Blutvergießen in der Ukraine sofort zu stoppen. Und dafür ist jedes Gespräch wichtig.