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Gesellschaft

Die verpasste Chance der ESA

DW Kommentarbild Anna Sacco
Anna Sacco
17. Dezember 2020

Wieder einmal ist ein weißer Mann über 50 an die Spitze einer großen europäischen Organisation gewählt worden. Wenn die Top-Jobs weiterhin nur an Männer gehen, wird sich nie etwas ändern, meint Anna Sacco.

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 Deutschland sechs Finalistinnen für das Raumfahrtprojekt "Die Astronautin"
Selbstverständlich gibt es qualifizierte Frauen, die im Bereich Raumfahrt etwas erreichen möchtenBild: Klampäckel/ Die Astronautin

Die Europäische Weltraumorganisation hätte das Jahr 2020 mit einem Paukenschlag beenden können. Einem Paukenschlag, der für mehr Inklusion und Diversität steht, für die Zukunftsorientierung einer modernen Raumfahrtagentur in einem modernen Europa. Einem Paukenschlag in Form der ersten Generaldirektorin ihrer 50-jährigen Geschichte. Doch die ESA hat sich dagegen entschieden.

Mit der wenig überraschenden Wahl von Josef Aschbacher an ihre Spitze, folgt die ESA der gängigen better safe than sorry-Strategie vorangegangener Jahrzehnte. In solchen Momenten - die Shortlist der sich Bewerbenden bleibt ein Geheimnis, die Ernennung Aschbachers eine Formalität - zeigt sich besonders deutlich, warum sich in Sachen Geschlechtergerechtigkeit nie etwas an den Spitzen der großen Vorstände, Institution und Organisation ändern wird, wenn nicht endlich mehr als nur Symbolpolitik betrieben wird.

Old boys' club

Bei der ESA zählt natürlich nur die Qualifikation, nicht die Person oder deren Geschlecht - schon klar. Doch mal ehrlich: Führungspositionen werden oft nicht nur nach fachlichen Kriterien besetzt, sondern auch nach politischen Interessen. Und zu denen zählt bei der ESA Geschlechtergerechtigkeit eben leider nicht.

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DW-Wissenschaftsredakteurin Anna Sacco

Die NASA hat 2019 die Leitung von drei der vier wissenschaftlichen Abteilungen mit qualifizierten Frauen besetzt. Auch die ESA hat Diversität zur höchsten Priorität erklärt. Doch im Top Management, wo neun von zehn Direktoren männlich sind, kommt davon irgendwie nichts an.

Die starke männliche Dominanz macht deutlich, dass Qualifikation allein nicht die entscheidende Rolle bei der Auswahl der Führungspositionen sein kann. Männer rekrutieren öfter Männer, die ihnen ähnlich sind in Herkunft, Alter, Ausbildung. Frauen dagegen werden - oft unbewusst - schlechter beurteilt und weniger oft für Führungspositionen in Betracht gezogen. Unbewusste Voreingenommenheit (Unconscious Bias) wurde auch schon bei der ESA selbst festgestellt: Anträge von Männern zur Nutzung des Weltraumteleskops Hubble wurden häufiger bewilligt als die von Frauen. Kaum war das Auswahlverfahren anonymisiert, verschwand die Ungleichheit. Gleich viele Forscherinnen wie Forscher bekamen nun die Chance mit Hubble zu arbeiten.

Alles nur Floskeln

Spielen wir ein Spiel: Welche dieser Aussagen könnte der Grund dafür sein, dass Top-Jobs in Forschung, Wirtschaft und Gesellschaft fast ausschließlich an Männer gehen?

"Es gibt nicht genug qualifizierte Frauen."

"Frauen interessieren sich halt nicht so sehr fürs Karrieremachen."

"Es gibt zu wenig Frauen mit Führungserfahrung."

"Frauen entscheiden sich eher für die Familie."

"Es haben sich keine Frauen für die Führungsposition beworben."

Die Antwort: Keine. Diese Aussagen sind bei näherer Betrachtung nämlich reine Floskeln. Sie werden besonders gerne von denen benutzt, die sich mit einem Verweis auf Frauenförderung in ihrem Umfeld aus der Affäre ziehen. Auch die ESA ist da keine Ausnahme.

Ein Fass ohne Boden

Doch Frauenförderung ist wie ein Fass ohne Boden: Es gibt sie schon seit Jahrzehnten und trotzdem kommen oben keine Frauen an. Frauenförderung nährt außerdem ein gefährliches Narrativ: Zum einen schiebt sie den Fokus des Problems weg vom Unternehmen hin zu den Frauen und gibt ihnen selbst die Schuld daran. Sie attestiert den Frauen ein Defizit, das behoben werden müsse, weil sie sonst nicht fit genug für Führungspositionen seien. Zum anderen verschleiert spezielle Förderung für Frauen auch das strukturelle Problem der Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern.

Mind the Gap - (Keine) Vorbilder

Frauenförderung allein kann also nie die Lösung sein. Schon gar nicht, wenn sie von so kuriosen Aktionen begleitet wird wie der Zusammenarbeit der ESA mit dem Spielzeughersteller Mattel: Um mehr Mädchen für die MINT-Berufe zu begeistern, wurde 2018 die Astronautin Samantha Cristoforetti zum Vorbild für eine Barbiepuppe. Doch pink-glitzernde "Girl's Edition"-Produkte verfehlen ihr Ziel: Sie brechen nicht mit Genderstereotypen, sondern verschärfen diese eher noch.

Gleiche Rechte bedeutet nicht automatisch gleiche Chancen

Wenn die Welt gleichberechtigter werden soll, können wir uns nicht nur auf medienwirksame Frauenförderung und gute Absichten verlassen. Es braucht einen Wandel der Unternehmenskultur in Firmen, Vorständen, Institutionen. Doch solange Männer die Positionen dominieren, in denen wesentliche Entscheidungen getroffen werden, ändern sich die starren Strukturen nicht, von denen sie ja selbst profitieren. Um strukturelle Ungleichheit zu korrigieren, muss man(n) bereit sein, an der Spitze Platz zu schaffen. Das bedeutet aber auch, dass Männer, die für entsprechende Positionen schon in den Startlöchern stehen, einen Teil ihrer Macht und ihre Privilegien abgeben müssen. Doch das wird niemals freiwillig geschehen.

Eine Organisation wie die ESA, die jährlich fünf Milliarden Euro Steuergelder ausgibt, sollte sich bei der Besetzung von attraktiven Positionen der Signalwirkung bewusst sein. Und endlich anfangen, Diversität und Inklusion auch an höchster Stelle umzusetzen.

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Anna Sacco Berichtet über populärwissenschaftliche Themen, Entwicklungspsychologie und Reproduktionsmedizin.