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Politik

Die notwendige Heilung Amerikas

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Melinda Crane
13. September 2020

Donald Trumps Lügen in der Corona-Krise sind so ungeheuerlich, dass man versucht ist, ihm die Verantwortung für alle Opfer zuzuweisen. Doch die Grundprobleme der USA sind bereits 40 Jahre alt, meint Melinda Crane.

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Coronavirus USA Obdachlose in Philadelphia
Die Zahl der Arbeitslosen ist rasant gewachsen, ebenso die der Obdachlosen - wie hier in PhiladelphiaBild: picture-alliance/NurPhoto/C. Clark

"Strukturelle Schwachstellen" - das klingt so trocken, also geben wir ihnen ein Gesicht: Das sind Familien in ihren Autos, die in kilometerlangen Schlangen vor den Tafeln warten. Das ist die arbeitslose Mutter, deren Kriegerwitwenrente zu schmal ist, um ihre drei Kinder zu ernähren. Das ist der Leichenträger, dem eine angemessene Schutzausrüstung verwehrt wurde, weil es nicht genug für alle gab.

Diese Gesichter sind jetzt sichtbar, seit die Corona-Krise sie ins Rampenlicht rückt. Aber ihre Situation ist gar nicht neu. Unzählige Autoren haben die Aufmerksamkeit auf strukturelle Probleme wie eklatante Ungleichheit, den "The winner takes it all"-Kapitalismus, und die von Geld getriebene Politik gelenkt. Zahlreiche Politiker - darunter die jüngsten Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten - haben Lösungen skizziert. Ich werde mich hier nur auf ein Thema konzentrieren: die prekäre Lage der Mittelschicht. Die hat sich aus einem Programm von Steuersenkungen, Deregulierung und Sozialabbau ergeben, das weder die Gewinne umverteilt, die an der Spitze der sozialen Pyramide anfallen, noch die Risiken, denen die Menschen ganz unten gegenüberstehen.

Deutschland als Vorbild?

Was in den USA getan werden muss, ist kein Geheimnis - nicht zuletzt, weil andere Nationen es tun. Als junge Journalistin recherchierte ich 1993 monatelang über das deutsche Modell der "Sozialen Marktwirtschaft" für eine US-Fernsehdokumentation des mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Autoren Hedrick Smith. Ich werde nie vergessen, wie das amerikanische Produktionsteam ein Statement drehte von Berthold Leibinger, dem legendären Vorstandsvorsitzende des deutschen Werkzeugmaschinenherstellers Trumpf, der erklärte, warum ein Modell, das für viele Amerikaner sozialistisch anmuten mag, wirtschaftlich sinnvoll ist: Sowohl die gesellschaftliche als auch die unternehmerische Widerstandskraft würden gestärkt durch eine verpflichtende Krankenversicherung und durch Systeme wie die "Mitbestimmung", die den Arbeitnehmern ein Mitspracherecht bei Managemententscheidungen einräumt, die "Kurzarbeit", die sicherstellt, dass die Arbeitnehmer auch in vorübergehenden Krisen auf der Lohn- und Gehaltsliste eines Unternehmens bleiben, und das "Dualen System" als Kombination aus schulischer und betrieblicher Ausbildung.

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DW-Korrespondentin Melinda Crane

Der Dokumentarfilm trug den Titel "Herausforderung für Amerika". Er kam zu dem Schluss, dass die USA von dem deutschen Engagement zum Erhalt der sozialen Stabilität lernen könnten. Als der Film ausgestrahlt wurde, schien diese Herausforderung gegenstandslos: Deutschland war nach der Wiedervereinigung in eine tiefe Rezession abgerutscht. Erst die Finanzkrise von 2008 lenkte die "Kurzarbeit" als Mittel zur Abfederung der sozialen Folgen einer temporären Krise wieder die Aufmerksamkeit der transatlantischen Öffentlichkeit auf sich.

Der Unterschied zwischen dem amerikanischen und dem deutschen Kapitalismus ist nicht kulturell bedingt, sondern das Ergebnis politischer Entscheidungen. In den USA gibt es historische Erzählungen - vom puritanischen Ideal der "Stadt auf einem Hügel", zu der andere aufschauen werden, bis hin zu Franklin D. Roosevelts "Economic Bill of Rights" -, die als Grundlage für eine besondere amerikanische soziale Marktwirtschaft dienen könnten. Diese Narrative wurden jedoch verzerrt und im Dienst einer neoliberalen Agenda instrumentalisiert, die mächtigen Interessen zugutekommt.

Die Herausforderung bewältigen

Wird die gegenwärtige "Herausforderung für Amerika" den Sinn für soziale Stabilität als gesellschaftliches Interesse wieder beleben? Die Antwort hängt davon ab, ob der Impuls für einen solchen Wandel die Polarisierung der US-Gesellschaft überwinden kann. Erinnern Sie sich an "Yes we can"? Der Weckruf, der während der Finanzkrise 2008 erklang, führte zur Wahl von Barack Obama, der wichtige Reformen durchsetzte. Doch die meisten dieser Reformen wurden inzwischen ganz oder teilweise wieder rückgängig gemacht. Nicht zuletzt durch parteiische Medien wie Fox News hat die gesellschaftliche Polarisierung den Charakter eines "Schwarzen Lochs" angenommen, das jede neue politische Idee sofort verschluckt.

Die Corona-Krise offenbart nicht nur die strukturellen Unterschiede zwischen dem US-amerikanischen und dem deutschen Wirtschaftssystem, sondern auch den Unterschied im politischen Vertrauen. Während eine breite Mehrheit der Deutschen das Handeln ihrer Regierung gutheißt, färbt ihre Parteipräferenz die Ansichten der Amerikaner zu fast jedem Aspekt der Pandemie und ihrer Bewältigung. Diese Nullsummendenken geht sogar so weit, dass man sich darüber empört, dass Hilfen der Bundesregierung in Washington an unwürdige Empfänger fließen.

Solches Denken spiegelt einen Teufelskreis wider, der die US-Demokratie von innen heraus untergräbt: Wenn der Staat sich immer weiter zurückzieht und die Menschen seinen stabilisierenden Wert in ihrem eigenen Leben nicht mehr spüren, schwindet ihr Vertrauen in ihn. Es ist Zeit, das berühmte Zitat von Ronald Reagan aus seiner Rede zum ersten Amtsantritt umzukehren: Die Regierung ist nicht DAS Problem, sie MUSS Teil der Lösung sein.

Die USA wissen genau, was getan werden muss. Doch lassen sie es auch zu?

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