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GesellschaftEuropa

Branişte: "Politiker - blind für die Nöte"

Medana Weident
30. April 2021

Eine der stärksten Stimmen der jungen rumänischen Literatur verschafft sich auch in Deutschland immer mehr Gehör - nicht nur als DW-Kolumnistin. Lavinia Braniştes zweiter Roman erscheint im Berliner Mikrotext-Verlag.

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Lavinia Branişte
Bild: Adi Bulboacă

Welchen Herausforderungen ist ein junger Mensch, vor allem eine junge Frau, heute ausgesetzt? In Rumänien und Europa. Hat sich an der Rollenverteilung in Partnerschaft und Familie etwas geändert? Wie wichtig ist der familiäre Halt in unserer Gesellschaft? Und wie entscheidend das Wissen über die jüngste Vergangenheit , die kommunistische Diktatur, für das Verstehen der Gegenwart? Was muss passieren, damit nicht mehr so viele junge Rumänen ihrem Land den Rücken zukehren? Die Bandbreite der Themen, die Lavinia Branişte in ihrer Prosa anspricht, ist groß. Es sind rumänische, aber auch aktuelle europäische Themen, betont im DW-Gespräch Nikola Richter, die ihren Mikrotext-Verlag 2013 ins Leben rief.

Screenshot Remote Literaturshow | Berliner Verlag mikrotex
Mit einer Remote-Literaturshow stellt der Mikrotext-Verlag in Berlin Lavinia Braniştes neuen Roman "Sonia meldet sich" vorBild: mikrotex

Die Berliner Verlegerin war für Lavinia Braniştes Literatur von Anfang an Feuer und Flamme, "auf der Suche nach neuen Narrativen und Texten mit Haltung". Aufmerksam auf Braniştes Prosa wurde sie durch die aus Rumänien stammende Übersetzerin Manuela Klenke. Zusammen haben sie sich für die Veröffentlichung beider Romane der rumänischen Autorin in Deutschland stark gemacht. Dass Lavinia Branişte als neue kraftvolle Stimme der rumänischen Gegenwartsliteratur auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt und von der deutschen Kulturpresse in höchsten Tönen gelobt wurde – 2018 war Rumänien Gastland – ebnete diesen Weg.

Die Suche nach der "wahren Geschichte" 

"Das hat mir sicherlich geschmeichelt", erinnert sich Branişte im DW-Interview. Nachdem ihr erster Roman "Null Komma Irgendwas" auf Deutsch erschienen sei und sie noch an dem zweiten - "Sonia meldet sich" - auf Rumänisch arbeitete, fragte die Verlegerin sie oft, wie lange sie noch brauche. "In Rumänien", sagt Branişte lachend, "fragt keiner, woran ich arbeite und wie lange ich noch zu schreiben habe".

Buchcover | Sonia meldet sich von Lavinia Braniște

In ihren DW-Kolumnen aus der Reihe "Mein Europa" greift Branişte, Jahrgang 1983, aktuelle politische und soziale Themen auf und beleuchtet diese aus persönlicher Sicht und aus der ihrer Generation. Dabei spielt das Wissen um die Wende 1989/90, die Lage davor und die Entwicklung danach eine herausragende Rolle. In "Sonia meldet sich" begibt sich die junge Protagonistin auf die Suche nach der Wahrheit, "nach der wahren Geschichte", so Klenke. Die Übersetzerin beider Romane ist fast im gleichen Alter wie Branişte und findet es gut, dass junge Meschen diesen Weg gehen. Über die jüngste Geschichte Rumäniens hat sie in der Schule auch kaum etwas erfahren: "Es ist wichtig, dass Sonia sich mit diesem Thema auseinandersetzt, auch wenn sie am Ende feststellen muss, dass jeder seine eigene Geschichte erzählt, verzerrt von der eigenen Wahrnehmung."

Der Machtkampf in der Politik bestimmt den Alltag in Rumänien

Mit ihrer scharfsinnigen Beobachtungsgabe, ihrem Fokus oft auch auf die kleinsten Dinge des Lebens, mit ihrem fast schmerzhaften Realismus, nicht jedoch ohne Humor und Ironie, verpackt in starke, poetische Bilder, blickt Branişte auch auf die jetzige Lage vor Ort. Wie hätte das marode und korrupte Gesundheitssystem Rumäniens der jetzigen Pandemie standhalten können? Der Machtkampf in der Politik, sowohl ein Auslöser als auch eine Folge der Entlassung des Gesundheitsministers Vlad Voiculescu vor zwei Wochen, bestimmt in Rumänien den Alltag.

"Die Politiker rempeln sich an wie beim Autoscooter auf dem Jahrmarkt", beschreibt Branişte die Lage im DW-Interview. "Es ist ein einziger Machtkampf, in dem sie sich gegenseitig ein Grab schaufeln. Sie sind vom Rest der Welt weit entfernt, von den Menschen und dem, was sie eigentlich tun sollten. Es ist alles so kleinlich. Man merkt, wie brüchig und kleinlich die Politik ist und wie blind für die Nöte der Menschen. Das ist sehr traurig. Sicherlich wussten wir das auch vor der Pandemie, aber jetzt wird es auf noch schmerzhaftere Weise deutlich", fasst die rumänische Autorin die Situation zusammen. Sie erzählt anschließend von einer Statistik, die sie vor kurzem gelesen habe: In Rumänien sei die Zahl der Nicht-Corona-Toten gestiegen. Viele Menschen würden aus Angst vor den Zuständen im Krankenhaus auf einen Aufenthalt dort verzichten - und zahlen dabei einen hohen Preis.

Um viele dieser Themen wird es auch bei der Remote-Literaturshow am Freitag (30. April) gehen - einem Event, das in Kooperation mit dem Goethe-Institut Bukarest entstanden ist. Verlegerin Nikola Richter strotzt vor innovativen Ideen und konnte die Corona-Zeit dadurch gut überstehen. Eine davon ist die Online-Remote-Show: Ein buntes Programm mit Lesungen, Gesprächen, Live-Musik und sogar Live-Cooking soll den neuen Roman "Sonia meldet sich", dessen Autorin und das EU-Land Rumänien einem breiten Publikum vorstellen. Infos und Tickets gibt es auf der Website des Verlags.

Die allgegenwärtige Pandemie und ihre Folgen

Lavinia Branişte lebt zurzeit in ihrer Geburtsstadt Brăila, im Süd-Osten Rumäniens, an der Donau. Davor war sie durch mehrere Stipendien zwei Jahre lang auf Reisen - in Deutschland, Österreich und in der Schweiz. Als Schriftstellerin sei sie von der Pandemie zum Glück nicht so hart getroffen worden wie andere Künstler, vor allem die Freischaffenden im Musik- oder Theaterbereich. Das zu sehen, tut weh. In Brăila, einer Stadt mit etwa 180.000 Einwohnern, hätten auch die letzten beiden Buchhandlungen dicht gemacht. Geblieben sei eine einzige, weit entfernt, in einem Einkaufszentrum am Rande der Stadt.

Lesung in der Osnabrücker Buchhandlung "Zur Heide" (2018)
Davon kann man in der Pandemie nur träumen: Zusammen mit der Übersetzerin Manuela Klenke stellte Lavinia Branişte 2018 ihren Roman "Null Komma Irgendwas" in Osnabrück vor Bild: Stefan Bumme

"Es tut gut in dieser Zeit, bei meiner Familie zu sein – auch wenn wir nicht gerade auf derselben Wellenlänge sind. Wir haben uns gern", erzählt die junge Schriftstellerin. "Eine intakte Familie ist eine fantastische Stütze in Corona-Zeiten, während anfällige Beziehungen in Krisen noch mehr Schaden nehmen könnten." 

Was sie zurzeit am meisten vermisst? Die Menschen, ihre Freunde in Bukarest, die Theater- und Kinosäle. Ob das alles ein Thema für ihren nächsten Roman wird? Nein, gewiss nicht: "Im Moment wird schon zu viel darüber gesprochen, die Pandemie ist allgegenwärtig." Sogar in ihren Träumen. Kürzliche habe sie geträumt, erzählt sie lachend, sie säße in einem Zug ohne Maske. Das habe sie in große Panik versetzt.