Wirtschaftswunder: Zieht Italien an Deutschland vorbei?
2. April 2024Mauro Congedo findet und renoviert mit seinem Bruder und seinem Vater seit 25 Jahren kleine architektonische Schätze im Salento - einer Halbinsel im äußersten Südosten Italiens - sozusagen am Absatz des italienischen Stiefels in der Region Apulien.
Die Wohnungen und Häuser, die Congedo in der recht abgelegenen Region restauriert, finden mittlerweile auch Käufer in Deutschland oder England. "Es läuft wieder gut", erzählt der 50-Jährige Architekt am Telefon.
Während der Corona-Pandemie kam das Geschäft fast komplett zum Erliegen. Doch was sich danach in Italien in seiner Branche abspielte, sei "crazy". Und die Zeit bleibt fast ein bisschen stehen, weil er das "a" so in die Länge zieht. Doch der Schein trügt: Congedo ist vom Wirtschaftsaufschwung in Italien nicht nur begeistert.
Vom Sorgenkind zum Wachstumsmotor
Während die Regierungen in Rom in den Jahren vor der Pandemie vor allem gewohnt waren, schlechte Wachstumsprognosen zu verkünden und Spitzenpositionen in Schuldenrankings zu erreichen, wird das Land derzeit zum Wachstumsmotor Europas. Im letzten Quartal wuchs die italienische Wirtschaft um 0,6 Prozent, während die deutsche im selben Zeitraum um 0,3 Prozent schrumpfte.
Und auch abseits der Momentaufnahme lassen sich die Zahlen der drittgrößten Volkswirtschaft Europas sehen. "Seit 2019 ist die italienische Volkswirtschaft um 3,8 Prozent gewachsen", sagt Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank, im DW-Gespräch. Das sei "doppelt so viel wie die französische Wirtschaft und fünfmal mehr als die deutsche Wirtschaft."
In Deutschland hingegen sind die Aussichten trüb. So sagt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ein Wachstum von 0,3 Prozent voraus. Führende deutsche Experten gehen sogar nur noch von 0,1 Prozent Wachstum im laufenden Jahr aus. Italien hingegen soll laut OECD in diesem Jahr um 0,7 Prozent wachsen.
Auch die Börse profitiert von der Aufbruchsstimmung. So hat der italienische Leitindex FTSE MIB, indem die 40 größten Unternehmen gelistet sind, im vergangenen Jahr um rund 28 Prozent zugelegt - mehr als alle anderen europäischen Börsenindizes. Italien auf Wachstumskurs - eine Erfolgsstory.
Vertrauen in die Regierung Meloni wieder gestiegen
Dabei hatten Ökonomen zuerst sehr verhalten reagiert, als Giorgia Meloni im Herbst 2022 ins Amt kam. Die ultrarechte Regierungschefin mit ihrer Partei "Brüder Italiens" hatte im Wahlkampf einen nationalistischen Wirtschaftskurs "Made in Italy" angekündigt, gegen Migranten gehetzt und sich nicht eindeutig von Russland abgegrenzt. Die Wochenzeitschrift Stern bezeichnete sie nach ihrer Wahl als "gefährlichste Frau Europas". Aber wirtschaftspolitisch blieb Meloni bisher weitestgehend auf Kurs ihres Vorgängers Mario Draghi. Das zahlt sich für Italien aus - zumindest am Anleihemarkt. So ist der Zins, zu dem sich Italien Geld leiht, wieder auf dem Niveau vor Melonis Amtsantritt.
Bei einer Pressekonferenz Anfang des Jahres versuchte Meloni den Aufschwung für sich zu verbuchen. Vor allem die fehlende politische Stabilität in der Vergangenheit habe die Wirtschaft gebremst, so Meloni, die derzeit in Italien fest im Sattel sitzt.
Doch wie viel des Wachstums ist Melonis Erfolg?
"Wenig", sagt Jörg Krämer von der Commerzbank. "Das starke Wachstum lässt sich gut erklären durch die lockere Fiskalpolitik Italiens." Soll heißen: Italiens Wachstum beruht vor allem auf neuen Schulden. Lag die Neuverschuldung des italienischen Staates vor Corona gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) noch bei 1,5 Prozent, schnellte sie in den letzten Jahren nach oben und betrug in der ersten Hälfte von 2023 bereits 8,3 Prozent.
Auch der Schuldenberg des Staates wächst: So ging die EU-Kommission im Januar davon aus, dass er in diesem Jahr die Marke von 140 Prozent des BIP übersteigen wird und 2025 weiter ansteigt. Zum Vergleich: in Deutschland liegt die sogenannte Schuldenquote bei 66 Prozent, in Frankreich bei knapp 100 Prozent.
Gigantisches Bauprogramm treibt Wirtschaft an
Seit Ende 2020 fördert der italienische Staat diverse Sanierungsmaßnahmen. Manche Maßnahmen mit 50 Prozent, andere mit noch mehr. Doch vor allem der sogenannte Superbonus 110 für energetische Sanierungen ist besonders beliebt: Wer also sein Haus oder seine Wohnung energetisch renoviert, der bekommt die gesamten Ausgaben plus zehn Prozent zurückerstattet - und zwar über eine reduzierte Steuerlast, die auch mehrere Jahre laufen kann. "Man kann sich vorstellen, dass die Bauinvestitionen in die Höhe geschossen sind", sagt Ökonom und Italienkenner Krämer. "Dieser Effekt erklärt zwei Drittel des starken Wachstums, das wir beobachten."
Der Architekt Mauro Congedo ist vom Superbonus wenig begeistert. Alles sei teurer geworden. Denn nicht nur die Inflation habe die Preise angeheizt, auch der Superbonus habe die Kosten für Materialien und Personal nach oben getrieben. "Wenn der Staat alles zahlt, dann ist den Leuten egal, wie hoch die Rechnung ist", sagt Congedo. Hinzu komme, dass niemand die Preise kontrolliere. Mehrmals hätten ihn Baufirmen aus Neapel, Bari oder der Provinzhauptstadt Lecce gebeten, seine Kosten nach oben anzupassen. "Die wollten, dass ich doppelt so viel veranschlage. Ich habe das nicht gemacht. Das fühlt sich wie Stehlen an", sagt Congedo.
Er findet einen Bonus für die energetische Erneuerung von Gebäuden generell gut. Die Eigentümer müssten sich aber an den Kosten beteiligen und nicht alles vom Staat bekommen. Von seiner Regierungschefin Giorgia Meloni hält Congedo wenig. Das einzig Gute an ihr sei, dass sie den Superbonus beendet habe.
Geldregen aus Brüssel
Tatsächlich hat die ultrarechte Regierungschefin den von der linken Fünf-Sterne-Bewegung eingeführten Superbonus eingedampft. 2023 auf 70 Prozent und in diesem Jahr auf 65 Prozent der Sanierungskosten.
Dennoch werden die Steuergutschriften aus dem Superbonus die nächsten Jahre die Staatseinnahmen deutlich reduzieren. Da kommt es der Regierung in Rom wohl sehr gelegen, dass vor allem aus Brüssel die Milliarden fließen. Wie kein anderer Mitgliedsstaat bekommt Italien Geld aus dem europäischen Corona-Wiederaufbaufonds.
Bis 2026 werden knapp 200 Milliarden Euro in Form von Zuschüssen und Darlehen an Italien ausbezahlt. "Spätestens bis zu diesem Zeitpunkt muss der italienische Staat sein sehr hohes Haushaltsdefizit runterbringen. Wenn er dann erst beginnt zu sparen, dann wird vermutlich auch dieses italienische Wachstumswunder enden, weil die Jahre nicht genutzt worden sind für strukturelle Reformen", sagt Jörg Krämer im DW-Gespräch.
Auch Mauro Congedo sorgt sich, das der Superbonus ihn noch lange begleiten wird. "Die Preise sind sehr hoch und wir haben viele Schulden gemacht." Die Arbeit wird ihm erstmal nicht ausgehen: Derzeit arbeitet er an acht Projekten gleichzeitig.