Der Stummfilm "Die Gezeichneten"
6. Oktober 2018Gedreht südwestlich von Berlin, mit großer Ausstattung, einem Statistenheer, vor allem mit russischen Exil-Schauspielern besetzt, ist der Film "Die Gezeichneten" ein historisches Dokument, aber auch ein brandaktueller Film. Er handelt von Ausgrenzung und vom Hass auf Minderheiten, erzählt eine Geschichte von Menschen zwischen revolutionären Auseinandersetzungen und Intoleranz.
Wiederentdeckung eines brisanten Stummfilms
Vor 100 Jahren erschien der Roman des deutschstämmigen dänischen Autors Aage Madelung, der sich in seinem Buch mit der antijüdischen Stimmung während der Revolution im Russland von 1905 auseinandersetzte. Der Roman verkaufte sich hierzulande außerordentlich gut. Drei Jahre später machte der dänische Filmpionier Carl Theodor Dreyer aus dem Stoff einen Spielfilm.
Schon vor einigen Jahren wurde "Die Gezeichneten" restauriert. Jetzt wurde der Film auch mit neu übersetzten Zwischentiteln - die alten entsprachen im Wortlaut der russischen Fassung - und mit neu eingespielter Musik veröffentlicht. Hinter der Rekonstruktion alter Filme, vor allem solcher aus der Stummfilm-Ära, steht oft eine abenteuerliche Entstehungsgeschichte. Zwischentitel, vor allem bei Filmen mit politisch-historischem Kontext, haben somit - aus heutiger Sicht - auch oft eine verfälschende Wirkung.
Dreyer erzählt Episoden aus der russischen Revolution von 1905
Die deutsche Originalfassung des Films verschwand im Laufe der Jahre, lange war nur eine sowjetrussische Exportversion von "Die Gezeichneten" vorhanden. Erst mit der Entdeckung einer Filmkopie im französischen Toulouse und den jetzt rekonstruierten Zwischentiteln entspricht Dreyers Werk annährend der ursprünglichen Fassung - sieht man einmal davon ab, dass rund 30 Minuten des Originals bis heute verschwunden sind.
Aage Madelung und Dreyer erzählen in Buch wie Film eine Episode vom Vorabend der Revolution im Russland von 1905. Die Handlung spielt in der russischen Provinz und in St. Petersburg, die Protagonisten kommen aus verschiedenen Schichten der Gesellschaft. Im Mittelpunkt steht ein jüdisches Geschwisterpaar, das durch verschiedene Umstände in die Revolutionswirren der Zeit verstrickt ist.
Das Leiden und das Martyrium des Menschen
Es geht in "Die Gezeichneten", der seine Geschichte durchaus auch mit genretypischen melodramatischen Mitteln erzählt, im Kern um das Thema Toleranz und - wie so oft bei Dreyer - um das "Leiden und das Martyrium des Menschen" (Ib Monty). In der zentralen Figur des jüdischen Mädchens Hanne-Liebe Segal (Polina Piechowska, unser Bild oben) begegnet der Zuschauer einer Figur, die vor allem aufgrund ihrer religiösen Herkunft in das Räderwerk von Missgunst und Verfolgung gerät.
Das Finale des Films zeigt, eindrucksvoll inszeniert, wie ein entfesselter Mob Jagd auf Juden macht, hemmungslos und im Blutrausch. Bei dieser Hetzjagd kommen Jakow Segal (Wladimir Gaidarow), der Bruder von Hanne-Liee, sowie viele andere Juden ums Leben - einzig, weil sie von der entfesselten Meute als Teil einer bestimmten (religiösen) Gruppe identifiziert werden.
Zeitgenössische Kritik: "Leidensweg eines ganzen Volkes"
"Der in den neuen Primus-Palast-Lichtspielen mit großem Erfolg bereits in der dritten Woche laufende Film findet jetzt auch in der Alhambra ein interessiertes Publikum", schrieb 1922 "Der Kinematograph", als Dreyers Film in den deutschen Lichtspielhäusern lief, und fragte: "Ein Tendenzfilm? Vielleicht. Jedenfalls einer von den wenigen ganz starken mit ausgeprägter Eigenart, die den Zuschauer in ihren Bann zwingen und einen Eindruck hinterlassen. (…) Es ist weniger das Schicksal des einzelnen, das hier interessiert. Es ist das Schicksal aller, es ist der Leidensweg eines ganzen Volkes."
Der Journalist Axel Rühle bemerkte fast ein Jahrhundert später in der "Süddeutschen Zeitung": "Immer wieder erstaunlich, was in den Archiven der Filmmuseen noch immer für Schätze schlummern. Man sollte glauben, langsam sei der Bestand der alten Filme bekannt, allzu viele sind es ja nicht, aber dann taucht plötzlich doch wieder ein riesiger Goldklumpen auf."
Blick in die Filmgeschichte - Anstoß für heute
Für den heutigen Zuschauer bedeutet der Film zudem nicht nur die Wiederentdeckung eines lange vergessenen, bemerkenswerten Werks eines bedeutenden Regisseurs. "Die Gezeichneten" ist zudem ein höchst aktueller Film. Gut eineinhalb Jahrzehnte nach den Dreharbeiten in der Nähe von Berlin, die ein Pogrom in Russland aus dem Jahre 1905 nachzeichneten, wütete in der deutschen Hauptstadt ein Mob gegen die jüdische Bevölkerung, an dessen Schlusspunkt der Tod von sechs Millionen Juden stand. Auch das sollte zu Denken geben im Jahre 2018, in dem in Deutschland darüber diskutiert wird, was eine "Hetzjagd" ist.
Carl Theodor Dreyer: Die Gezeichneten, Spielfilm aus dem Jahre 1922, Länge 95 Minuten, Sprache Deutsch, Untertitel Englisch, mit der neu eingespielten Musik von Bernd Thewes, erscheinen beim Anbieter "Absolut Medien"/Arte Edition.