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Eine Notbremse

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert
26. Oktober 2015

Das komplette Scheitern in der Flüchtlingskrise vor Augen haben sich EU-Schlüsselstaaten in Brüssel auf Notmaßnahmen für Flüchtlinge geeinigt. Das muss jetzt klappen, sonst ist die EU in Gefahr, meint Bernd Riegert.

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Flüchtlinge an der Grenze zwischen Österreich und Slowenien
Bild: Reuters/L. Foeger

Nur unter enormen Druck, unter Drohungen und gegenseitigen Beschimpfungen haben es die Regierungschefs der Staaten an der Balkanroute geschafft, sich auf einen Katalog an Sofortmaßnahmen zu verständigen. Aber immerhin: Sie haben sich wenigstens geeinigt. Den Plan, um das beschämende Chaos an der Flüchtlingsroute zu ordnen, hatte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker durchgedrückt. Er ist sicherlich der Held des Abends.

Stundenlange Debatten

Zunächst ergingen sich die Chefs der Balkanstaaten in Schuldzuweisungen bis sie nach stundenlangen Debatten die ernste Lage zum zähneknirschenden Einlenken zwang. Nicht nur die katastrophale Versorgungslage von zehntausenden Menschen auf der Flucht galt es zu verbessern, sondern auch der Zusammenhalt der Europäischen Union stand auf der Kippe. Sollten die zugesagten Maßnahmen aus dem Juncker-Plan jetzt nicht in kürzester Zeit auch von Staaten umgesetzt werden, ist die Glaubwürdigkeit der Regierungen und auch der EU-Kommission dahin.

Schon mehrfach hatten Sondergipfel in den letzten Wochen Beschlüsse gefasst, die dann in der Praxis verkümmerten. Der jetzige Notfallplan ist die letzte Chance, die empörende Lage an der Balkanroute in den Griff zu bekommen. Sollten wirklich 100.000 Plätze zur vorrübergehenden Unterbringung und Registrierung der Flüchtlinge und Asylbewerber entstehen, wäre das ein Durchbruch. Einfach weiterreichen und dem nächsten Land auf der Route die Schuld geben, soll in Zukunft unmöglich sein.

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DW-Redakteur Bernd Riegert

Griechenlands Schlüsselrolle

Ein Schlüsselland ist Griechenland, das am Beginn der Fluchtroute steht und bislang wenig unternommen hatte, um seinen Pflichten nachzukommen. Nun gilt die larmoyante Entschuldigung, man habe ja eine Wirtschaftkrise und die Türkei sei Schuld, nicht mehr. Premier Alexis Tsipras muss liefern. Vorsorglich hat ihm die EU bedeutet, dass er schließlich komplett von den finanziellen Zusagen der Europäer abhängig ist. Völlig unmöglich macht sich Ungarn. Regierungschef Victor Orban steckte für seine schon zynische Haltung, er sei nur Beobachter der misslichen Lage, weil sein Land ja nicht mehr auf der Route liege, berechtigterweise viele Prügel ein. Auch ihm wurde unmissverständlich klar gemacht, dass sein Land einer der Hauptempfänger von EU-Geldern ist.

Irgendwo gibt es eine moralische Grenze. Abschotten, einigeln, einmauern - das sind keine europäischen Rezepte. Das hat das Sondertreffen in Brüssel noch einmal klar gemacht. Wie lange wird diese notdürftig wiederbelebte Solidarität halten?

Problem der Außengrenzen

Die Flüchtlingskrise wird durch den Balkanrouten-Gipfel nicht gelöst, der Zustrom nicht eingedämmt, sondern hoffentlich menschlicher gemanagt. Das Durchschleusen der Flüchtlinge von Griechenland bis nach Deutschland wird hoffentlich etwas geordneter weitergehen. Und da liegt das größte Problem für Bundeskanzlerin Angela Merkel. Weiter werden täglich tausende Menschen in Deutschland ankommen. Bis die Außengrenzen der EU wieder geschützt werden und die Flüchtlinge und Asylbewerber bereits in Griechenland oder Italien registriert, versorgt und auch zurückgeschickt werden könnten, werden noch Wochen, wenn nicht Monate vergehen. Bis die Türkei wie gewünscht mitzieht, können ebenfalls Monate vergehen. Hält Deutschland, hält Merkel so lange durch?

Denn die ganze Balkan-Fluchtkette funktioniert nur so lange, wie Deutschland und einige andere Staaten am Ende der Kette die Flüchtlinge aufnehmen. Würden Deutschland oder Österreich ihre Grenzen verriegeln, bräche auf dem Balkan erst recht Chaos aus. Deshalb haben einige Staaten der Kanzlerin unverhohlen gedroht, sie würden dann ebenfalls dichtmachen. Sie machen Merkel persönlich für das Anschwellen des Flüchtlingszuzugs verantwortlich. Das Ende der EU, wie wir sie kennen, wäre dann unvermeidlich.

Die Beschlüsse der letzten Nacht verhelfen zu einer kurzfristigen Erleichterung, wenn es gut geht. Deshalb muss weiter mit Hochdruck an einer langfristigen Lösung gearbeitet werden, um der Flüchtlinge willen, aber auch um Europa willen.

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Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union