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Alles Muckefuck?

26. Oktober 2009

Solidarität durch Ausbildung – unter diesem Motto schickte Kuba ab Anfang der 1960er Jahre Studenten in den weiter entwickelten Bruderstaat DDR. Eine Zeit, die Yrene Hampe bis heute prägt.

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Die Kubanerin Yrene Hampe beim Interview.
Die Kubanerin Yrene hat zehn Jahre in der DDR studiert.Bild: Anne Herrberg

"Sag dem Hund, er soll etwas leiser bellen, ich habe Besuch!", ruft Yrene Hampe aus dem Fenster zum Nachbarhaus, dann lässt sie sich auf das schmale Sofa fallen. So sei das eben in Kuba, immer laut, sagt sie, "nicht so, wie bei euch in Deutschland!" Sie lacht – eine zierliche Frau, Mitte 60, aber immer noch mit den wachen Augen einer 20-Jährigen. Damals, kurz nach dem Sieg der Kubanischen Revolution 1959 war sie Mitglied in der sozialistischen Jugendorganisation "Jovenes Rebeldes", den "Jungen Rebellen", die später zur "Juventud Comunista", der "Kommunistischen Jugend" wurden. Yrene half bei der Alphabetisierungskampagne, engagierte sich politisch und irgendwann kam das Angebot, ins sozialistische Ausland zu fahren, um dort zu studieren. Denn nach der Kubakrise 1962 und der darauf folgenden Verschärfung des US-Embargos begann Kuba, seine Beziehungen zum Ostblock auszubauen. Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch auf kultureller und Bildungsebene. "Solidarität durch Ausbildung" hieß das, je länger das Studium, desto größer der Nutzen, so die Ansage. Yrene lacht wieder und sagt in deutsch-spanischem Mischmasch: "Era todo muy Brüderschaft….alles war ein bisschen naiv."

Hinter dem Eisernen Vorhang

Eine Statue Ché Guevaras, der ein Kind im Arm hält, wirbt für Bildung uns Solidarität.
"Der neue Mensch" - Ché Statue wirbt für Bildung und Solidarität.Bild: Anne Herrberg

Doch keiner wollte fahren. "Damals wussten wir nichts von diesen Ländern, hier herrschten noch viele Vorurteile, die sich aus der Zeit vor der Revolution gehalten hatten", erinnert sie sich, "alles was hinter dem Eisernen Vorhang war, war schlimm! Die haben ihre Kinder umgebracht und solche Geschichten hörte man!" Doch Yrene war neugierig. Mit Freunden beriet sie, welches Land das "zivilisierteste" wäre und entschied sich für die DDR.

1963 bricht sie auf. Mit der Baikal, einem russischen Schiff, geht es von Havanna nach Danzig, dann weiter im Zug nach Berlin: Begrüßung mit Nationalhymne, offizielle Worte vor der Botschaft, freundliches Nicken, kein Wort verstanden – dann nach Leipzig. Ihre ersten Eindrücke zeichnen das Bild vom Nachkriegsdeutschland: Die Häuser sind grau, nachts gibt es kaum Straßenlaternen, Kohle nur auf Zuteilung, dazu schlechtes Wetter und Schwarzbrot. Yrene verzieht heute noch das Gesicht: "Schwarzbrot fand ich ganz seltsam, aber alles andere hat mich begeistert, alles war neu, alles war spannend!" Yrene lernt schnell deutsch und beginnt Chemie an der Universität Merseburg zu studieren. Schon bald lernt sie ihren späteren Mann kennen und zieht mit ihm zurück nach Leipzig.

Keine Hochzeitserlaubnis

"An erster Stelle steht mein Land, an zweiter meine Eltern, dann du! Einverstanden?", macht sie dem jungen deutschen Ingenieur schnell klar. "Ich war wirklich mit der Idee in die DDR gekommen, mein Land voranzubringen", erklärt sie. Den Schrei "¡Viva la Revolución!" habe man damals noch ganz frisch auf den Lippen gehabt: "Wir waren voller Enthusiasmus, voller Träume von unserer gerechten Welt, unserem Sozialismus!"

Auf einer Mauer ist "Revolution - Für unseren Traum von Gerechtigkeit" zu lesen.
"Für unseren Traum von Gerechtigkeit" - Revolutions-Propaganda in HavannaBild: Anne Herrberg

Yrene wird schwanger und heiratet ihren deutschen Ingenieur - gegen den Willen der kubanischen Behörden, die ihr daraufhin ihr Stipendium entziehen. Doch die Chemie-Fakultäten in Merseburg und in Leipzig stellen sich hinter sie, das DDR-Staatssekretariat für Hochschulen übernimmt die Ausbildungskosten und Irene kann weiterstudieren und sogar ihren Doktor machen.

"Man muss sich auf ein Land einlassen können"

"Ein Assistent wollte auf keinen Fall eine Ausländerin in seiner Seminargruppe haben", erinnert sie sich. Beim Namen Yrene Hampe habe er niemals eine Kubanerin erwartet. Schnell fügt sie hinzu, dass sie sonst nie Probleme wegen ihrer Herkunft gehabt hätte. Vielleicht andere, sagt sie, die durch ihre Hautfarbe eher aufgefallen seien. Oft habe es auch Zank in den Gaststätten gegeben, wenn Alkohol im Spiel war. Meist seien das diejenigen Vertragsarbeiter gewesen, die ohnehin Schwierigkeiten gehabt hätten, sich zu integrieren. "Wenn du in ein anderes Land gehst, musst du dich darauf einlassen, die Sprache und Kultur lernen und nicht an allem herummeckern." Jede Provokation von Seiten eines Deutschen sei dann schnell als Einladung verstanden worden, den eigenen Frust abzulassen, sagt sie.

"Zu uns kam kein russischer Panzer"

Menschen sitzen am Malecón, einer der längsten Uferstraßen, in Havanna.
Der Malecón in Havanna - Treffpunkt für Träumer und Auswanderer.Bild: DW / Lena Fabian

Wenn damals irgendwoher die Melodie eines alten Songs aus ihrer kubanischen Heimat erklang, sie Leute Domino spielen sah oder laut aufbrausende Diskussionen hörte, dann, manchmal, habe auch sie Kuba vermisst. "Aber hier ärgere ich mich dann wieder, dass alles so chaotisch und laut ist!" Jedes Land habe eben seine Kultur, sagt sie heute, sie selbst habe beide – die deutsche und die kubanische – in sich: "Ich habe vieles wirklich verinnerlicht, während meiner Zeit in der DDR habe ich Disziplin gelernt, Strukturen, wie feste Mahlzeiten, Pünktlichkeit, Höflichkeit, das hat mir später sehr geholfen", sagt sie heute rückblickend.

Am politischen System allerdings habe sie sich gestoßen, denn die DDR und Kuba hätten zwei absolut unterschiedliche Prozesse durchlebt: "Wir haben für unsere Revolution selbst gekämpft, kein russischer Panzer kam, um uns zu sagen, was wir tun sollten." Die DDR sei dagegen immer der Teil Deutschlands gewesen, der die schlechtere Partie gemacht habe. Dann kichert Yrene: "Chruschtschow und Fidel trinken um die Wette", setzt sie an, "Chruschtschow verliert und beginnt zu lachen: was für ein Gesicht Walter Ulbricht wieder machen wird, wenn ich ihm sage, dass er euch eine neue Zuckerfabrik schenken muss!" Solche Witze habe man über die Beziehungen der DDR zur Sowjetunion gemacht.

Westkaffee oder Muckefuck?

Die DDR-Bürger hätten immer nach "drüben" geguckt, erinnert sich Yrene und erzählt, wie sich ihre Schwiegermutter manchmal darüber lustig machte. Da sie Westverwandtschaft hatte, bekam sie oft Kaffee und Süßigkeiten geschickt und dann musste sie die Nachbarinnen einladen, weil die am Fenster gelauert und alles mitbekommen hatten: "Und dann hieß es: 'Oh, das ist Westkaffee, wie der schmeckt!' Dabei hatten wir heimlich Muckefuck gemacht", lacht sie.

Yrene und ihr Mann bei ihrer Hochzeit vor 45 Jahren. Foto: Anne Herrberg
Yrene und ihr Mann bei ihrer Hochzeit vor 45 Jahren.Bild: Anne Herrberg

Es habe eine Doppelmoral geherrscht, "man dachte die eine Sache und sagte die andere." Rückblickend könne man schon sagen, dass viel Misstrauen geherrscht habe und Angst vor Bespitzelung, auch wenn sie selbst damit nie in Berührung gekommen sei. Zudem habe sie mit den Jahren eine Art Apathie in der DDR beobachtet. Immer wenn sie von Kuba erzählt habe, hätte ihre Schwiegermutter geseufzt: "Ach, Yrene, diese Etappe der hochgekrempelten Ärmel, die hatten wir auch. Aber du wirst sehen, irgendwann kommt die Zeit der Krawatten und der stillschweigenden Angepasstheit..." - "Nein, nein, Mutti!", habe sie dann entgegnet,  "in Kuba wird das nicht passieren!"

Kein Wiedersehen

1973, nach zehn Jahren, kehrt Yrene zurück, mit dem DDR-Studium im Gepäck, um in Kuba anzupacken. Doch da waren keine offenen Arme, um sie zu empfangen. "Es wurde mir nicht leicht gemacht", sagt sie. Sie fand keine Arbeit, hatte keine Wohnung. Yrene mit ihren drei Kindern muss wieder kämpfen, diesmal für sich und ihre Familie: Denn ihr Mann, der mit nach Kuba kommen wollte, bekam von den DDR-Behörden keine Ausreisegenehmigung, weil die Flugverbindung über Kanada ging - kapitalistisches Ausland - und sich schon viele DDR-Bürger auf diese Weise abgesetzt hatten.

"Wir haben uns alle nie wieder gesehen", sagt sie und scheinbar wie auf Kommando weht ein Luftzug durch das Fenster ihres Wohnzimmers in Havanna, bauscht die Vorhänge auf und gibt die Schrankwand frei, in der ein Bild von einem jungen, glücklichen Paar steht. "Unser Hochzeitsbild", sagt Yrene, "es ist schon ein bisschen blass geworden."

Schöner, naiver Traum

Yrenes Mann stirbt 1999 an einem Herzleiden, erst sieben Jahre später kann sie wieder nach Deutschland reisen. 2006 steht sie mit Freunden von damals in Berlin auf der Friedrichsstraße, dort wo früher die Mauer entlang ging: "Da ist mir der Mauerfall erst bewusst geworden", sagt sie. Es sei wunderschön gewesen, zu sehen, dass dieser Traum von einem vereinten Deutschland in Erfüllung gegangen sei. "Aber es war auch ein naiver Traum", fügt sie hinzu. Denn für die Mehrzahl der DDR-Bürger sei nicht das "drüben" gekommen, von dem sie immer geträumt hatten: "Das ist genauso wie bei uns heute in Kuba: Viele denken nur an Schuhe von Nike und Reebok, von den Yumas, den Amerikanern und wollen auswandern." Doch alles habe immer zwei Seiten, was war, kommt nicht zurück: "Heute gibt es diese Nostalgie bei vielen ehemaligen DDR-Bürgern, aber bestimmt nicht, weil ihnen der Muckefuck so gut geschmeckt hat!"

Autorin: Anne Herrberg
Redaktion: Ina Rottscheidt