Entwicklungspsychologin: "Afrikanische Mütter sind über uns erschüttert"
19. Januar 2014Deutsche Welle: Viele junge Mütter in Deutschland gehen heute scheinbar einen anderen Weg als früher. Das Baby wird tagsüber eng an den Körper gebunden, statt im Kinderwagen zu liegen, nachts schläft es gemeinsam mit den Eltern im Familienbett statt in der Wiege. Woher kommt der Wandel der vergangenen Jahre?
Heidi Keller: Lediglich eine kleine Gruppe hat ihr Verhalten geändert. Diese Form der Erziehung, genauso wie der sogenannte moderne Vater, ist ein Phänomen einer ganz kleinen Gruppe - häufig Hochgebildete, die erst spät und wenige Kinder bekommen. Diese Gruppe beschäftigt sich ganz bewusst mit Kindererziehung, liest viel und bekommt so auch neue Erkenntnisse der Wissenschaft mit. Das heißt aber nicht, dass sie die besseren Eltern sind. Und natürlich gibt es eine Industrie, die sehr stark darauf reagiert. Ein Blick in Geschäfte und auf Messen zeigt: Es gibt mittlerweile ein unglaubliches Angebot zum Beispiel an Tragetüchern und anderen Accessoires.
Auch wenn es bislang nur eine kleine Gruppe betrifft: Sieht denn so der perfekte Start ins Leben aus?
Keller: Es gibt keine allgemeingültige Antwort darauf. Es hängt vielmehr davon ab, was Eltern mit ihrer Erziehung bezwecken wollen. Ein Beispiel: Bei einer typischen Mittelschichtfamilie in Deutschland, den USA oder Italien sieht man oft, dass die Mütter ihr Kind auf den Boden legen und sich anschließend über sie beugen. So entsteht viel Blickkontakt, Stimulation und Gespräch. Die Mütter stellen viele Fragen, verbalisieren die innere Welt des Kindes. Das schafft ein Umfeld, in dem bestimmte autonomieorientierte Sozialisierungsziele leichter erreicht werden können.
Doch dafür kommt die Verbundenheit in manchen Fällen zu kurz. Denn Körperkontakt ist eher die Ausnahme: Selbst wenn die Kinder zum Beispiel in einem Tuch oder Rucksack transportiert werden, liegt in unseren Breitengraden meist Kleidung auf Kleidung. Damit bekommen die Babys vielleicht Bewegungsstimulation, aber die hätten sie in einem Wagen auch.
Sie haben in vielen Ländern geforscht, darunter Indien, Kamerun, Mexiko und China. Inwieweit unterscheidet sich denn die Zuwendung der Mütter weltweit?
Erst einmal: Nicht das Land ist entscheidend, sondern das soziale Milieu. Dieses wiederum orientiert sich stark an der formalen Schulbildung. Sie bestimmt häufig, wann die Frau ihr erstes Kind gebärt und wie viele es insgesamt werden. Mittelschichtfamilien in Indien, Mittel- und Südamerika oder in Europa sehen sich in diesen Punkten sehr ähnlich: Meist kommen die Kinder erst sehr spät, die Familie bleibt eher klein. Natürlich gibt es auch Unterschiede - aber es gibt mehr Gemeinsamkeiten zu anderen Mittelschichtfamilien auf anderen Kontinenten als zu den dörflichen Familien im selben Land. Die Städterinnen verstehen häufig nicht, wie sich die Bäuerinnen zu ihren Babys verhalten und finden das völlig falsch.
Andersherum gilt auch: Die dörflichen Familien in Kamerun, Brasilien oder in Indien sind sich untereinander wieder sehr ähnlich. Das bedeutet: Enger Körperkontakt, die Mutter ist häufig nicht die Hauptbezugsperson, vielmehr zieht ein Netzwerk das Kind auf. Die Babys erhalten viel Stimulation. Sie sollen früh sitzen und laufen lernen, um selbstständiger zu werden. Stimmen- und Blickkontakt ist dagegen eher nachgeordnet. Wenn ein Baby quengelt, wird es sofort an die Brust gelegt.
Sie haben nicht nur Erziehungsstile in anderen Ländern untersucht, sondern "unseren" Stil auch von Müttern in Kamerun bewerten lassen. Was kam dabei heraus?
Die Frauen haben Videos gesehen, in denen sich die Mütter über die Babys, die am Boden lagen, beugten. Sie hielten die gezeigten Frauen für schlechte Babysitter und waren erschüttert. Am Ende haben sie vorgeschlagen, dass einer mal nach Deutschland fliegen soll, um den deutschen Müttern zu erklären, wie man mit Babys umgehen soll.
Auch die Kommunikation sorgte für große Irritation: Westliche Mütter schließen die Babys in Dialoge ein, kleine kommunikative Signale des Säuglings werden als Gesprächsbeiträge interpretiert. Wenn man so etwas Bäuerinnen in Kamerun zeigt, fragen sie sich: Wissen die denn nicht, was gut für ein Baby ist?
Die Vorstellung, wie man richtig mit Babys umgeht, ist sowieso etwas, was sehr tief in unserem Selbst verankert ist: Das, was wir für richtig halten, halten wir für allgemeingültig. Und nicht nur wir halten unsere Einstellungen für das einzig Wahre. Das gilt auch für die afrikanischen Bäuerinnen. Nur haben sie nicht die Möglichkeit, diese Vorstellungen über UNICEF, die World Health Organisation und ähnliche Institutionen weltweit zu transportieren.
Heidi Keller ist Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Osnabrück. Sie leitet dort die Abteilung "Entwicklung und Kultur" und arbeitet am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien.
Das Gespräch führte Stephanie Höppner.