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Ein Taliban aus Bremen?

Andreas Tzortzis/brü10. September 2002

Vor einem Jahr verließ Murat Kurnaz Bremen in Richtung Pakistan. Seit Januar wird er von den USA in Guantanamo Bay als mutmaßlicher Taliban-Kämpfer gefangen gehalten. Ohne Verfahren und ohne Beweise.

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Vor einigen Jahren noch ohne Bart: Murat KurnazBild: DW-World

Unpersönliche weiße Postkarten aus Guantanamo Bay und ein kurzer Brief, das ist alles, was Rabiye Kurnaz von ihrem Sohn gesehen hat, seitdem er Bremen letzten Oktober verlassen hat. Eine spirituelle Reise nach Pakistan wollte er machen, dort wollte er "den Koran verstehen". Nach zwei Monaten wurde der zwanzigjährige Murat Kurnaz amerikanischen Soldaten in der Nähe des Flughafens von Karachi übergeben.

Die Amerikaner beschuldigten Kurnaz, für die Taliban gekämpft zu haben und brachten ihn in das Internierungslager "Camp X-Ray" an der Südküste Kubas. Dort harrt er zusammen mit über 600 anderen eines ungewissen Schicksals, ohne persönlichen Kontakt zu seiner Familie oder einem Rechtsanwalt. Die Lebensbedingungen in diesem Lager wurden von verschiedenen Menschenrechts-Organisationen kritisiert.

Der Fall Kurnaz ist besonders verwickelt: Kurnaz ist zwar in Deutschland geboren und aufgewachsen, aber immer noch türkischer Staatsbürger. Daher hat die deutsche Regierung hier wenig Einflussmöglichkeiten. Und die türkische Regierung hat bis jetzt wenig Interesse an dem Fall gezeigt, berichtet der Anwalt der Familie Kurnaz, Bernhard Docke. Nach Ansicht der deutschen Ermittlungsbehörden war Murat Kurnaz höchstens ein Möchtegern-Taliban, nie aktiver Kämpfer.

Kriegsgefangene ohne Rechte

Rabiye Kurnaz vergleicht den Fall ihres Sohnes mit dem des "amerikanischen Taliban" aus Kalifornien, der letzten Winter aufgegriffen wurde: "John Walker wurde mitten im Krieg in Afghanistan gefangen genommen. Was haben die Amerikaner mit ihm gemacht? Sie haben ihn vor einen Richter gestellt. Was haben sie mit Murat gemacht? Einfach ins Gefängnis gesteckt. Ich kann hier keine Menschenrechte erkennen, Sie etwa?"

Die Weigerung der US-Regierung, die Internierten als Kriegsgefangene zu betrachten, macht es möglich Verdächtigen wie Kurnaz die von der Genfer Konvention garantierten Rechte zu verweigern. Selbst die Regierungen der zwölf in Guantanamo-Bay gefangen gehaltenen EU-Bürger haben nur begrenzten Zugang zu ihren Landsleuten.

"Das Grundprinzip des Kriegs gegen den Terrorismus ist es doch, die Herrschaft des Rechts aufrecht zu erhalten, wir sollten den moralischen high ground aufrecht erhalten", sagt Steven Everts vom Londoner Center for European Reform. "Die Entscheidung der amerikanischen Regierung diesen Leuten nicht den vollen Schutz der Genfer Konvention zuzugestehen widerspricht genau diesem Gedanken, um den es doch bei der internationalen Koalition gegen den Terrorismus geht."

Keine Unterstützung für den deutschen Türken

Rabiye Kurnaz
Rabiye Kurnaz, Murats MutterBild: DW-World

Murat Kurnaz Mutter Rabiye schrieb einen Brief an Bundesaußenminister Joschka Fischer, aber da Kurnaz türkischer Staatsbürger ist, sind diesem die Hände gebunden. Rabiyes fast tägliche Anrufe beim türkischen Konsulat in Hannover und bei der Botschaft in Berlin führten bis jetzt zu gar nichts. "Sie sagen immer, dass sie sich darum kümmern, aber sie haben überhaupt nichts getan", sagt Rabiye. Ein Sprecher der türkischen Botschaft in Berlin meinte auf Anfrage von DW-WORLD: "Über den Fall ist uns hier nicht viel bekannt."

Kampfhunde und Koranschulen

Murats Eltern kamen als Gastarbeiter nach Bremen. Er ging auf deutsche Schulen, hatte einen deutschsprachigen Freundeskreis. Nur der wöchentliche Gang zur türkischen Moschee zusammen mit seinem Vater unterschied ihn von seinen deutschen Freunden.

Die Moschee, die er seit seiner Kindheit besuchte, wird von "Milli Görüs", einer vom türkischen Staat unterstützen muslimischen Organisation, betreut. Vor etwa zwei Jahren jedoch wechselten Murat und sein Freund Selcuk Bilgin, mit dem er eine Vorliebe für den Koran und für Kampfhunde teilte, von der türkischen zur arabischen Abu Bakr-Moschee in der Nähe des Bremer Hauptbahnhofes. "Er sagte die wären gläubiger als wir. Er empfand sie als bedeutender", erzählt seine Mutter. Die Abu Bakr-Moschee in Bremen wird inzwischen vom Verfassungsschutz beobachtet.

Am 3. Oktober 2001 fand Rabiye das Bett ihres Sohnes leer vor. Von Freunden erfuhr sie, dass er auf dem Weg nach Pakistan sei. Nach Erkenntnissen deutscher Ermittler zog er dort von Koranschule zu Koranschule, studierte und versuchte in Karachi Kontakt mit Taliban-Kämpfern aufzunehmen. Doch statt dessen wurde er den US-Behörden übergeben. Die Ermittler in Bremen glauben nicht mehr, dass Kurnaz jemals zu den Taliban gestoßen ist.

"Dies ist kein herkömmlicher Krieg"

Drei Mal haben haben Rot-Kreuz-Mitarbeiter Murat Kurnaz in Guantanamo-Bay besucht. Die US-Regierung erlaubt der internationalen Organisation die Gesundheit und die Haftbedingungen der Internierten zu überprüfen, aber es ist nicht erlaubt Informationen an Verwandte weiterzugeben. Alle Versuche des Rechtsanwaltes der Familie Kurnaz, Docke, mit den amerikanischen Behörden zu sprechen, blieben erfolglos. "Die sagen uns noch nicht einmal, was sie ihm konkret vorwerfen, sie sagen uns nicht welchen rechtlichen Status er hat", so Rechtsanwalt Docke.

"Es ist die Haltung der USA aus Sicherheitsgründen über nichts zu sprechen, was die einzelnen Gefangenen betrifft," erklärt Lieutenant Commander Barbara Burfeind, Sprecherin des Pentagon in Washington. "Dies ist ein neues Feld, dies ist kein herkömmlicher Krieg."

Die Unsicherheit belastet Rabiye Kurnaz. Das letzte Lebenszeichen von ihrem Sohn war eine Postkarte Ende Mai, wo er kurz mitteilte, dass er gesund sei. Trotzdem hört sie nicht auf, ihm zu schreiben. Die Briefe enden immer mit den selben Worten. "Ich schreibe: 'Murat, hast Du meine Briefe bekommen?' Aber ich habe nie eine Antwort erhalten."