1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

"Politische Atombombe" gegen Polen

20. Dezember 2017

Weil der Rechtsstaat in Polen in ernster Gefahr ist, hat die EU-Kommission jetzt ihre schärfste Waffe gezückt. Mit Artikel 7 des EU-Vertrages soll Warschau zur Räson gebracht werden. Bernd Riegert berichtet.

https://p.dw.com/p/2phWa
Polnische Flagge und EU Flagge
Bild: picture-alliance

Frans Timmermans, der zuständige Vizepräsident der EU-Kommission, war am Ende ratlos. "Wir haben keine andere Möglichkeit mehr", sagte er in Brüssel. "Wir haben schweren Herzens heute beschlossen, den Artikel 7 auszulösen." Monatelang hatte der niederländische EU-Kommissar mit der "politischen Atombombe" gedroht, wie das Strafverfahren nach Artikel 7 des Lissabonner Grundlagenvertrages der EU in Brüssel landläufig genannt wird. Die nationalkonservative Regierung in Warschau zeigte sich unbeeindruckt und setzte ihre umstrittene Justizreform entschlossen um. Damit sei die rechtsstaatliche Ordnung im EU-Mitgliedsland Polen ernsthaft und systematisch gefährdet. Die Gewaltenteilung zwischen Regierung und Justiz sei nicht mehr gegeben, meint die Kommission und verweist auf Artikel 2 des Lissabonner Vertrages, der die Rechtsstaatlichkeit als Grundprinzip jedes Mitgliedslandes festschreibt.

Brüssel EU Vizepräsident Frans Timmermans
EU Vizepräsident Frans TimmermansBild: Imago/ZUMA Press/W. Dabkowski

"Leider hat sich die Lage immer weiter verschlechtert", klagte Timmermans. Die Regierung in Warschau verweigere jeden Dialog. Er sei nach wie vor bereit, jederzeit nach Warschau zu reisen. "Wenn man die Herrschaft des Rechts einschränkt, dann führt das zum Zusammenbruch einer funktionierenden EU", warnte Frans Timmermans eindringlich. "Wir tun das nicht gegen Polen gerichtet, sondern für jeden Polen, der den Schutz des Rechts verdient." Die EU-Kommission kritisiert besonders das Recht des polnischen Justizministers, Gerichtspräsidenten nach Gutdünken zu ernennen und entlassen. Die politische Mehrheit könne in Polen in allen drei Gewalten des Staates alles bestimmen, das dürfe nicht sein.

Diese Ansicht teilt übrigens auch der Europarat, in dem Polen ebenfalls Mitglied ist. Dessen Verfassungsexperten, auch Venedig-Kommission genannt, hatte die Bestellung von Richtern in Polen ebenfalls heftig kritisiert. Der Europarat ist ein von der EU unabhängiger Staatenbund, der die Menschenrechte in Europa überwacht.

Allerletzte Frist für Polen

Die "politische Atombombe" dient eigentlich der Abschreckung und soll gar nicht eingesetzt werden. Bislang jedenfalls ist es in der EU nie so weit gekommen. Bei der Drohung mit Artikel 7 in diversen Auseinandersetzungen mit Ungarn hat die Regierung von 2011 bis 2013 noch eingelenkt. Frans Timmermans bestritt in Brüssel auch, dass er mit der "politischen Atombombe" spiele. "Darum geht es nicht. Es geht darum, dass der Ministerrat jetzt seine Empfehlungen abgibt und die Lage beurteilt". Bis Artikel 7 förmlich beantragt wird, hat Polen noch einmal drei Monate Zeit, um die Justizreform zurückzudrehen.

Symbolbild Lissabon-Vertrag
In Artikel 7 des Lissabon-Vertrages ist die "Atombombe" versteckt, Polen hat unterschriebenBild: EC AV Service

Duda unterschreibt umstrittene Justizreformen

Inzwischen hat Polens Präsident Andrzej Duda die von ihm vorgelegten Reformen zum Obersten Gericht und Landesjustizrat unterzeichnet. Sie würden sich von den im Juli per Veto gestoppten Justizgesetzen unterscheiden, sagte er im Warschauer Präsidentenpalast. Duda wehrte sich damit gegen Kritik von Rechtsexperten, seine Vorschläge seien noch immer eine Gefahr für die Unabhängigkeit der Justiz. Es seien sehr gute Gesetze für die Bürger. "Sie dienen der Demokratisierung des Landes", sagte Duda. Damit stellte er sich hinter die Reformen, die nach Meinung der EU-Kommission gegen Grundwerte der Gemeinschaft verstoßen. 

Bis zur Strafe kann es dauern

Wie geht es jetzt weiter in dem Verfahren? Artikel 7 ist komplex und sieht ein Vorgehen in drei Stufen vor:

  1. Die EU-Kommission wird in drei Monaten dem Ministerrat, also der Vertretung der 28 Mitgliedsländer, vorschlagen, die Gefahr einer Verletzung der Rechtsstaatlichkeit festzustellen. Der Rat hört Polen an und entscheidet dann mit einer Mehrheit von vier Fünfteln (22 Staaten), ob diese Gefahr wirklich besteht. Dem muss auch das Europäische Parlament zustimmen, und zwar mit einer Zweidrittel-Mehrheit.
  2. Der Ministerrat kann dann, wenn sich Polen immer noch nicht bewegt, feststellen, dass das Land die Grundwerte der EU "anhaltend und schwerwiegend" verletzt. Dieser Beschluss muss einstimmig erfolgen, wobei eine Enthaltung den Konsens nicht verhindert. Allerdings reicht eine "Nein-Stimme", wie aus Ungarn angekündigt, um diese Feststellung zu verhindern.
  3. Wenn die schwerwiegende Verletzung festgestellt ist, dann kann der Ministerrat Sanktionen beschließen, die bis zum Entzug der Stimmrechte Polens in der EU reichen können. Dazu ist dann eine qualifizierte Mehrheit notwendig, die sich aus 55 Prozent der Mitgliedsstaaten zusammensetzt, die 65 Prozent der Bevölkerung der EU repräsentieren müssen.

Gegen jeden dieser Schritte könnte Polen vor dem Europäischen Gerichtshof klagen. Das Verfahren insgesamt kann Jahre in Anspruch nehmen. Erfahrungen damit gibt es bisher nicht.

Deutschland stimmt zu

Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte beim EU-Gipfel in der vergangenen Woche angekündigt, Deutschland werde den Antrag der EU-Kommission in der ersten Stufe des Verfahren unterstützen. EU-Diplomaten gehen davon aus, dass sich EU-Kommissar Timmermans vor dem Zünden der Bombe im Ministerrat schon einmal informell eine Mehrheit gesichert hat.

Der neue polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki gab sich beim gleichen Gipfel gelassen. Er rechne mit der Einleitung des Strafverfahrens und verurteilte es gleichzeitig als "ungerecht". Er sei davon überzeugt, so Morawiecki, "dass souveräne Staaten das vollkommene Recht haben, ihr Justizsystem zu reformieren". 

Das bestreitet EU-Kommissar Frans Timmermans auch gar nicht. "Natürlich hat jeder Staat das Recht, sein Justizsystem und die Richterberufung zu gestalten", meinte Timmermans. Nur müsse das eben den europäischen Regeln entsprechen, die Polen im Lissabon-Vertrag mit unterschrieben hat. Es gehe nicht darum, den Staat Polen aus der EU herauszudrängen. "Eine EU ohne Polen kann für mich nicht funktionieren", sagte Timmermans.

Mateusz Morawiecki
Morawiecki: Politisches Verfahren ohne GrundlageBild: picture-alliance/AP Photo/A. Keplicz

Die EU-Kommission führt im Zusammenhang mit der Justizreform auch ein separates Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen. Da geht es um das unterschiedliche Pensionsalter für männliche und weibliche Richter. Das Verfahren könnte nach einem abschließenden Urteil des Europäischen Gerichtshofes zu Geldstrafen gegen die polnische Regierung führen.

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union