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Hungergipfel soll eine Zeitbombe entschärfen

22. September 2021

Schon im Vorfeld des ersten UN-Gipfels zu Ernährungssystemen zeigen sich die Bruchlinien zwischen Kleinbauern und Agroindustrie. Kritik, aber auch Lösungen kommen besonders aus Lateinamerika.

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Mähdrescher auf einem Feld mit genmanipuierten Sojabohnen im US-Bundesstaat Illinois
Mähdrescher auf einem Feld mit genmanipuierten Sojabohnen im US-Bundesstaat Illinois Bild: picture-alliance/Zumapress/R. C. Byer

Wohl kein Thema zeigt die Zukunftsprobleme der Menschheit so drastisch  wie die Ernährung: Eine wachsende Weltbevölkerung kombiniert mit immer weniger fruchtbarem Land, immer weniger Biodiversität und dem Klimawandel - es ist leicht erkennbar, dass darin eine Zeitbombe lauert. In ihrem jüngsten Welternährungsbericht läutete die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) deshalb die Alarmglocken: Der Hunger nehme weltweit zu und drohe, die UN-Entwicklungsziele entgleisen zu lassen. Rund zehn Prozent der Weltbevölkerung, 811 Millionen Menschen, sind demzufolge unterernährt - ein Anstieg um 118 Millionen im Vergleich zu 2019. Gleichzeitig lande ein Drittel der produzierten Lebensmittel im Müll. UN-Generalsekretär Antonio Guterres hat deshalb zum ersten Gipfel über Ernährungssysteme geladen. Ab diesem Donnerstag findet er am Rande der UN-Vollversammlung in New York statt.

Ein steiniger Weg

Eigentlich war der Gipfel für 2020 geplant. Die Pandemie vereitelte ihn, führte aber zugleich seine Dringlichkeit vor Augen, sagt Karina Sánchez, die bei der FAO in Mexiko für nachhaltige Ernährung zuständig ist: Auf den Feldern der lateinamerikanischen Bauern verrottete die Ernte, weil Häfen und Grenzen dicht waren; in den Armenvierteln der Städte hungerten derweil die Menschen - und wegen der sprunghaft angestiegenen Nahrungsmittelpreise hungern sie noch immer. "Das zeigt uns, wie wichtig es ist, die Nahrungsmittelkette als Ganzes zu sehen", so Sánchez im Gespräch mit der DW.

Besonders krass ist der Kontrast in in Lateinamerika. Die Region ist einer der großen Nahrungsmittelexporteure, doch zugleich sind 50 Millionen Menschen unterernährt. Lateinamerika wird laut FAO nicht nur das angestrebte Null-Hunger-Ziel im Jahr 2030 verfehlen; bis dahin wird die Zahl der Hungernden sogar noch um 20 Millionen steigen.   

Der Gipfel soll ein Musterbeispiel für ein inklusiveres Modell der internationalen Entscheidungsfindung werden. "Die Herausforderung ist so groß, dass sie nur mit vereinten Kräften gelöst werden kann", sagte die Gipfel-Sonderbeauftragte Agnes Kalibata im Vorfeld. Deshalb waren zu den Planungen auch Vertreter der Nahrungsmittelindustrie, Bauern, Konsumenten- und Menschenrechtsorganisationen eingeladen. In Mexiko hätten die runden Tische zu einem konstruktiven Austausch geführt, so Sánchez. Doch auf internationaler Ebene stehen sich zwei Visionen unversöhnlich gegenüber.

High-Tec oder Agroökologie?

Für Claudia Ortiz vom Movimiento Ríos Vivos (Bewegung der Lebendigen Flüsse) aus Kolumbien geht es um einen Paradigmenwechsel: "Die derzeitige industrielle Monokultur-Landwirtschaft kann das Hungerproblem nicht lösen. Die Konzerne sind auf Gewinnmaximierung aus und verkaufen in den Supermärkten billige, industriell verarbeitete und von weit her importierte Lebensmittel, die von unterbezahlten Tagelöhnern geerntet werden. Dieses System macht die Menschen krank, die lokalen Bauern arm und zerstört den Boden und die Umwelt", sagte sie in einer Videokonferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die der deutschen Linkspartei nahesteht.

Ein senegalesischer Bauer mit Fairtrade-Baumwolle
Ein senegalesischer Bauer mit Fairtrade-BaumwolleBild: transfair/obs/picture-alliance

Anders die Vision der Konzerne. Deren Vorstellung von der neuen Weltordnung hat der Chef des Davoser Weltwirtschaftsforums, Klaus Schwab, in seinem Buch "Der große Neustart" zusammengefasst. Die Ernährung der Zukunft sieht demnach so aus: Essen aus dem Reagenzglas, Satelliten-, Roboter- und Drohneneinsatz in einer Präzisionslandwirtschaft, klimaresistente Gensaaten, die Nachverfolgung von Produktionsketten per Blockchain, Netto-Null-Emissionen und freiwillige Umweltkompensationszahlungen. Nachhaltigkeit soll also via Technologie und buchhalterischen Innovationen in die bisherigen kapitalistischen Produktionsstrukturen integriert werden. Wissenschaftler und Universitäten erhoffen sich von dem Ansatz ebenfalls viel - zumindest Forschungsgelder und vielleicht sogar einen UN-Beirat ähnlich dem Panel für den Klimawandel.

"Den Kernfragen ausgewichen"

Die Industrie hat, so glauben einige Beobachter, eine Verbündete in der Gipfel-Präsidentin Agnes Kalibata, einer ruandischen Agrarwissenschaftlerin und Präsidentin der umstrittenen Allianz für eine Grüne Revolution in Afrika, die von der Rockefeller- und der Gates-Stiftung ins Leben gerufen wurde. Viele Kleinbauern hoffen auf die FAO, die in den vergangenen Jahrzehnten positive Erfahrungen gesammelt hat mit Waldgärten, Permakultur, lokalen Bauernmärkten, Saatgut-Tauschbörsen und fairen Handelsketten - also Modellen, die Konsumenten und Produzenten wieder näher zusammenbringen, lokale Wirtschaftskreisläufe schaffen und die Natur in die Produktion integrieren. In vielen Studien kam die FAO zu dem Schluss, dass Agroökologie ähnlich produktiv ist wie die Agroindustrie und weniger Probleme mit Bodenunfruchtbarkeit und Schädlingen hat.

Die Gipfel-Sonderbeauftragte Agnes Kalibata
Die Gipfel-Sonderbeauftragte Agnes KalibataBild: picture alliance / Geisler-Fotopress

Doch diese Vision ist im Vorfeld des Gipfels marginalisiert worden, sagen Kritiker. "Eliten haben den Gipfel gekapert", kritisierte in der Videokonferenz der Luxemburg-Stiftung beispielsweise der UN-Sonderbeauftragte für das Recht auf Ernährung, Michael Fakhry. Man sei Kernfragen ausgewichen, darunter die Macht der Konzerne und die Landkonzentration. Stattdessen gebe es nun ein buntes Potpourri von zusammenhangslosen Vorschlägen, aus denen die Regierungen sich ihr Menü herauspicken könnten. Darunter sind Initiativen für neue Zertifikate für Rindfeisch, nachhaltige Agrarsubventionen, ein Netzwerk afrikanischer Jungbauern oder Initiativen für gesunde Schulessen - freilich ohne die Konzerne für die jüngste Epidemie von Fettleibigkeit und Diabetes bei Minderjährigen in die Verantwortung zu nehmen, obwohl beispielsweise der Multi Nestlé in einem der Financial Times zugespielten internen Papier zugab, 60 Prozent seiner Nahrungsmittel seien ungesund.

In dieser Beliebigkeit sieht Sofía Monsalve, Generalsekretärin der Nichtregierungsorganisation FIAN, die sich für Ernährungssicherheit einsetzt, einen Rückschritt für den Mulitlateralismus. "Der Gipfel ist ein weiterer Schritt zur Privatisierung internationaler Institutionen. Ärmere Länder und Menschen werden noch stärker an den Rand gedrängt, während die Konzerne immer mehr in öffentliche Politikbereiche eindringen", sagt sie. Rund 800 Organisationen, Verbände und Basisorganisationen veranstalten deshalb einen Gegengipfel. Die Bäuerin Ortiz erwartet sowieso nichts von den Diplomaten in New York. "Die Lösungen erarbeiten wir hier, an der Basis. Irgendwann kapieren das hoffentlich auch die Regierungen."