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Erschöpfen viele Booster das Immunsystem?

Clare Roth
19. Januar 2022

Wirkt eine vierte Impfdosis überhaupt? Für eine Antwort ist es noch zu früh, meint die EU-Arzneimittelbehörde EMA. Aber einige Länder haben die Impfung bereits zugelassen.

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Ein Fläschchen mit Impfstoff und eine Spritze. Dahinter das Wort: Booster
Möglicherweise bremsen weitere Auffrischungsimpfungen die Pandemie gar nichtBild: Frank Hoermann/SVEN SIMON/picture alliance

Eine vierte Dosis von mRNA-COVID-19-Impfstoffen scheint keinen nennenswert höheren Schutz vor einer Ansteckung mit Omikron zu bieten als die dritte Impfung. Dies deutet eine vorläufige Studie aus Israel an. 150 Probanden hatten eine vierte Dosis der BioNTech/Pfizer-Impfung bekommen, 120 Probanden Moderna. Zwei Wochen nach der Impfung wurde die Antikörperkonzentration mit einer Kontrollgruppe verglichen, die nur eine dritte Impfung bekommen hatte.

Zwar hatten die vierfach Geimpften einen geringfügig höheren Antikörperspiegel, der zusätzliche Schutz war doch nur minimal, sagte Gili Regev-Jochai, der Direktor der Infektionsabteilung am Sheba Medical Center bei Tel Aviv. Regev betonte, es handele sich um Zwischener­gebnisse der Studie, sie wollte daher auch keine genaueren Zahlen nennen.

Israel ist das erste Land, welches systematisch seine Bürger zu einer vierten Impfung aufgerufen hatte. Die Forschenden veröffentlichten ihre Ergebnisse am Montag, den 17.1.2022, etwa drei Wochen nach Beginn der landesweiten Kampagne.

Die Ergebnisse scheinen Zweifel zu bestätigen, welche die Arzneimittelzulassungsbehörde der Europäischen Union (EMA) bereits letzte Woche geäußert hatte. Marco Cavaleri, verantwortlich für die Impfstoffstrategie der Europäischen Arzneimittel-Agentur, sagte bei einer Pressekonferenz, es gebe keine Daten, die die breite Wirksamkeit der vierten Impfung untermauern.

Einige Länder wie Dänemark, Ungarn und Chile haben trotz der Bedenken der Regulierungsbehörden bereits Auffrischungsimpfungen mit der vierten Spritze zugelassen. Noch Ende Dezember hatte der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation Tedros Ghebreyesus erklärt, dass pauschale Auffrischungsimpfungen die Pandemie eher verlängern würden als sie zu beenden.

Cavaleri verwies nicht nur auf fehlende Daten über die Wirksamkeit mehrerer Auffrischungsimpfungen, sondern sagte auch, dass sich häufige Auffrischungen möglicherweise negativ auf die Immunreaktion gegen COVID-19 auswirken könnten. Es könne zu einer "Ermüdung [der Immunität] der Bevölkerung" führen, die bereits mehrere Impfungen erhalten hat. 

Dies ist aber auch nicht unbestritten: Es gibt zwar keine klinischen Daten, die eindeutig die Wirksamkeit von Mehrfachimpfungen belegen, aber auch keine wissenschaftlichen Beweise dafür, dass häufige Impfungen zu einer Erschöpfung des Immunsystems führen können. Diese These wurde nie erforscht.

Was hat es mit der Erschöpfung der T-Zellen auf sich?

Cavaleri bezog sich wahrscheinlich auf die Befürchtung, dass der wiederholte Kontakt mit Antigenen, wie sie in Impfstoffen enthalten sind, zu einer T-Zellen-Anergie führen kann, vermutet Sarah Fortune, Professorin an der Harvard TH Chan School of Public Health, Abteilung für Immunologie und Infektionskrankheiten, in einer E-Mail an die Deutsche Welle. Unter einer Anergie versteht man in der Immunologie eine fehlende Reaktion auf einen Erreger durch Abschalten der Immunantwort.

Eine T-Zellen-Anergie soll eigentlich verhindern, dass die T-Zellen den eigenen Körper angreifen. Sie schützt uns also vor unserem eigenen Immunsystem bzw. dem Entstehen einer Autoimmunerkrankung. 

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Bei COVID-19 wäre eine T-Zellen-Anergie allerdings unerwünscht, denn T-Zellen spielen eine Schlüsselrolle bei der Bekämpfung von COVID-19, sobald es in den Körper eingedrungen ist.

Laut Fortune ist Cavaleris Besorgnis durchaus wissenschaftlich begründet. Seine Befürchtung sollte aber eher als eine Frage verstanden werden - Forschende sollten darauf achten. Bei COVID-19-Impfstoffen sei noch gar nicht klar, ob dieses Phänomen überhaupt auftritt. Es solle auch keine politische Entscheidungen beeinflussen.

Die Forschung sei im Fall von COVID-19 auch deutlich komplizierter als nur die Konzentration von Antigenen zu ermitteln, so Fortune.

"T-Zellen werden dysfunktional, wenn sie in bestimmten Kontexten wiederholt Antigene sehen. Am besten ist dies bei HIV oder Krebs erforscht, wo das Antigen ständig vorhanden ist, nicht nur bei wiederholten Impfungen", schreibt sie der DW.

Alle paar Monate zu impfen ist nicht üblich

Wenn jemand geimpft wird, ist das Antigen vielleicht zwei Wochen lang vorhanden, dann verschwindet es wieder, sagt Reinhard Obst, Professor am Institut für Immunologie der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er hat zur T-Zell-Anergie bei Mäusen geforscht.

Die Erschöpfung der T-Zellen konnte zwar bei Krebs- oder HIV-Patienten als Reaktion auf einige immunologische Behandlungen beobachtet werden, doch beim Menschen noch nie als Reaktion auf wiederholten COVID-19-Impfungen. 

Dennoch hält auch Obst Cavaleris Besorgnis trotz der fehlenden klinischen Daten für durchaus berechtigt.

"Die Idee, alle vier Monate oder sogar öfter zu impfen, ist neu. Das ist etwas, das man bei anderen Virustypen noch nicht gesehen hat. Und der Gedanke an die [mögliche] Erschöpfung der T-Zellen sollte ein Grund sein, innezuhalten", meint Obst.

"Wenn mich jemand fragen würde: 'Hey, würdest du dich alle vier Monate impfen lassen?' oder sagen wir mal, alle zwei Monate, viermal hintereinander... Ja, ich würde die Hand heben und sagen: 'Sei lieber vorsichtig... mach mal eine Pause'", so Obst.

Gelegentliche Booster sind hilfreich

Holden Maecker, Immunologie-Professor der Universität Stanford in Kalifornien, schreibt der Deutschen Welle in einer E-Mail, auch er habe keine wissenschaftlichen Belege dafür gefunden, dass mehrere Impfungen das Immunsystem überfordern. Doch er erwähnt Daten aus Großbritannien, die zeigen, dass es wirksamer sei, mit der zweiten Dosis etwa sechs Monate zu warten. 

Auch andere Studien hätten gezeigt, dass das Immunsystem Zeit braucht, um ein Gedächtnis aufzubauen. Das deute darauf hin, dass Auffrischungsimpfungen in kurzen Abständen nicht sehr nützlich sind, fügt er hinzu. 

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Dennoch: "Die jährliche Grippeimpfung schadet uns nicht, und alles deutet bisher darauf hin, dass gelegentliche Auffrischungsimpfungen gegen COVID-19 hilfreich sind", so Maecker.

Impfstoffe sollen unmögliche Anforderungen erfüllen

Paul Offit, Direktor des Vaccine Education Center und behandelnder Arzt in der Abteilung für Infektionskrankheiten am Children's Hospital of Philadelphia, hat sich kritisch gegenüber COVID-19-Auffrischungsimpfungen für die Allgemeinbevölkerung geäußert. Er hält die Strategie für falsch. Offit ist auch Mitglied des beratenden Ausschusses für Impfstoffe der US Food and Drug Administration (FDA).

Seine Sorge gilt weniger der möglichen T-Zellen-Anergie. Er hält aus grundsätzlichen Überlegungen eine Gesundheitsstrategie für verfehlt, die auf die Verhinderung relativ leichter Erkrankungen ausgerichtet ist.

So seien an die COVID-19-Impfstoffe unmögliche Anforderungen gestellt worden. Schon in den Phase-3-Studien zur Qualität der Impfstoffe von Moderna und Pfizer im Dezember 2020 in den USA, sei eine 95-prozentige Wirksamkeit gegen leichte Krankheitsverläufe erreicht worden.

"Das kann nicht von Dauer sein", sagt Offit und fügt hinzu, dass neutralisierende Antikörper mit der Zeit abnehmen.

Daher würden einige geimpfte Personen leichte Fälle von COVID-19 entwickeln, prognostizierte er. "Das ist in Ordnung", so Offit und betont, dass die Impfstoffe so wirken, wie sie wirken sollen. "Man will einfach nur, dass man nicht ins Krankenhaus, nicht auf die Intensivstation und nicht in die Leichenhalle muss. Und das hat der Impfstoff getan. Aber wir haben diese Fälle als 'Durchbrüche' bezeichnet, was meines Erachtens ein Kommunikationsfehler war. So haben wir dann diesen Impfstoff mit einem Standard belegt, den wir bei keinem anderen Impfstoff [gegen Atemwegserkrankungen] anwenden würden." 

Infografik Abwehrsystem des Menschen

Typische Grippe- und Rotavirusimpfstoffe schützen oft nicht vor leichten Erkrankungen, wohl aber vor mittelschweren bis schweren Erkrankungen, und genau das ist laut Offit auch der Sinn der Sache. 

Die US-Gesundheitsbehörden hätten aber Auffrischungsimpfungen genehmigt, um leichte Erkrankungen zu verhindern, so Paul Offit gegenüber DW. Der Schwerpunkt sollte jedoch eher auf der Verabreichung der ersten und zweiten Impfdosis an ungeimpfte Menschen liegen als auf der weiteren Auffrischung von Menschen, die bereits ihre ersten beiden Impfungen erhalten haben.

"Es handelt sich um eine weltweite Pandemie", sagt Offit. "Wir werden alle unter diesem Virus leiden, bis wir es in der Welt unter Kontrolle haben."

Prioritäten besser setzen: Die ganze Welt braucht Impfungen

"Solange das Virus in der Welt zirkuliert, brauchen wir eine hochimmune Bevölkerung", fährt Offit fort. "Der beste Weg, dies zu erreichen, besteht darin, dafür zu sorgen, dass die Länder, die nur begrenzten Zugang zu Impfstoffen haben, auf die gleiche Weise wie wir Zugang zu Impfstoffen haben." Der Direktor des Vaccine Education Center hält die dritte, vierte und fünfte Dosis weitgehend für eine Verschwendung. "Es führt weg von dem, was man wirklich braucht: Sicherzustellen, dass die Menschen ihre erste Impfdosis erhalten, weil diese sie wahrscheinlich für lange Zeit, sogar für Jahre, vor schweren Krankheitsverläufen schützt", mahnt Offit.

In den USA wurde die Auffrischungsimpfung im November für alle Amerikaner zugelassen, obwohl Berater des Impfstoffausschusses der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) und der FDA wie Offit dagegen waren.

Die CDC sagt, dass zwei Dosen des Impfstoffs zwar bei den meisten Menschen ausreichen, um eine schwere Erkrankung zu verhindern, dass aber Auffrischungsimpfungen dazu beitragen können, Menschen in Risikogruppen vor einer schweren Erkrankung und vor einer Neuinfektion mit neuen Varianten wie Omikron zu schützen.

Jüngste Studien in Israel und den USA haben außerdem gezeigt, dass Auffrischungsimpfungen zum Schutz älterer Menschen beitragen können. Offit sagt, dass sie für Menschen, die sie aufgrund von Risikofaktoren benötigen, sinnvoll sind, dass aber der Schutz vor Omikron allein kein ausreichender Grund ist, alle Menschen mehrfach zu impfen.

"Menschen, die ins Krankenhaus eingeliefert werden, Menschen mit multiplen Erkrankungen, die älter oder immunsupprimiert sind - sie sollten geboostet werden. Ich bin sehr dafür", sagt Offit. "Aber ich verstehe einfach nicht, was das für eine Kriegsstrategie sein soll: Gegen leichte Erkrankungen bei gesunden jungen Menschen vorzugehen". 

Der Artikel ist ursprünglich auf Englisch erschienen.