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PolitikBelgien

Belgiens EU-Ratspräsidentschaft: Viel zu tun, wenig Zeit

1. Januar 2024

Belgien übernimmt am 1. Januar für sechs Monate die EU-Ratspräsidentschaft. Weil im Juni in Europa und Belgien gewählt wird, muss bis Ende April ein volles Programm erledigt werden.

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Logo der belgischen EU-Ratspräsidentschaft "be EU"
"Sei EU!" könnte man als kategorischen Imperativ aus dem englisch-sprachigen Logo der belgischen Ratspräsidentschaft herauslesen. Be ist auch das Länderkürzel für BelgienBild: Philip Reynaer/Photo News/IMAGO

"Der typisch belgische Kompromiss, das ist unser Geheimnis", sagte Hadja Lahbib lächelnd auf die Frage, was denn die Belgier besonders für die EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2024 qualifiziere. "Wir sind besser darin, Lösungen zu finden, als Probleme zu schaffen", meinte die liberale Außenministerin aus dem französisch-sprachigen Landesteil Wallonie bei der Vorstellung des belgischen EU-Programms Anfang Dezember.

Das Königreich Belgien sei als "vielsprachiges, multiethnisches Land mit sehr vielen Ideen", an Diskussionen und Kompromisssuche gewöhnt, glaubt Hadja Lahbib, deren Eltern aus Algerien einwanderten und die nach einer Karriere als Fernsehjournalistin erst vor eineinhalb Jahren in die Politik einstieg und gleich Außenministerin wurde.

Belgien: Premier Alexander De Croo hinter Außenministerin Hadja Lahbib bei einer Pressekonferenz
Außenministerin Lahbib (li.) und Premier De Croo wollen Kompromisse für verzwickte europäische Fragen findenBild: Philip Reynaers/IMAGO

Endspurt mit großen Herausforderungen

An der belgischen Ratspräsidentschaft liegt es, bis Ende April über 100 noch offene Gesetzesvorhaben der Europäischen Union gemeinsam mit dem Europäischen Parlament abzuschließen. Die Reform der Asylverfahren und Regelungen für die Künstliche Intelligenz sind nur zwei davon. Ende April tritt das Europäische Parlament zu seiner letzten Plenarsitzung vor den Europawahlen in der ersten Juni-Woche zusammen. Was bis dahin nicht geregelt ist, muss dann vom nächsten Parlament und einer neu zu bildenden EU-Kommission im Herbst übernommen werden.

"Schützen, stärken, vorbereiten"

Viel Zeit bleibt der belgischen Regierung also nicht. Trotzdem will der liberale Ministerpräsident aus dem niederländisch-sprachigen Landesteil Flandern, Alexander De Croo, möglichst die Gesetze zum grünen Umbau der Wirtschaft und zur Wettbewerbsfähigkeit der Europäer in der Welt vorantreiben. Die Menschen erwarteten vor den Europawahlen konkrete Ergebnisse und Perspektiven von der EU, glaubt Alexander De Croo. "Das heißt, die Menschen schützen, die Wirtschaft stärken und eine gemeinsame Zukunft vorbereiten", fasst er das Motto der belgischen Ratspräsidentschaft zusammen.

"Für Belgien ist das bereits die 13. Ratspräsidentschaft. Wir sollten also wissen, was wir tun", gab der Regierungschef bei der Vorstellung seiner Ziele zu bedenken. "Wir haben Erfahrung." Belgien war 1957 eines der sechs Gründungsmitglieder der Vorläuferorganisationen der heutigen Europäischen Union.

Ungarns Veto überwinden?

Die Belgier müssen schon am 1. Februar bei einem Sondergipfel versuchen, einen langfristigen EU-Haushalt auszuhandeln, in dem 50 Milliarden Euro an Hilfe für die kriegsgebeutelte Ukraine enthalten sein sollen. Ungarn hatte das beim Gipfel im Dezember mit seinem Veto verhindert. "Es ist sehr wichtig, dass wir zeigen, dass wir der Ukraine weiter helfen", meint der belgische Premier De Croo. Die Einheit der Union sei ihre eigentliche Stärke. Die müsse unbedingt gewahrt werden, auch um künftige Herausforderungen zu überstehen. Wie er den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban zum Einlenken bewegen will, ließ De Croo noch offen. 

Belgiens Premierminister Alexander De Croo (vorne links) neben  und Ungarns Premierminister Viktor Orban (ganz rechts)
Widersacher am rechten Rand: Ungarns Premier Orban und Belgiens Regierungschefs de Croo (li.) beim EU-GipfelBild: Omar Havana/AP Photo/picture alliance

Das Arbeitsverhältnis mit dem EU-skeptischen Ungarn ist stark angespannt, aber man muss zusammenarbeiten, weil Ungarn nach Belgien im zweiten Halbjahr turnusgemäß die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Man werde Anhörungen wegen mangelnder Rechtsstaatlichkeit in Ungarn abhalten, kündigte die belgische Außenministerin Hadja Lahbib an. "Die Ungarn sind für mich Ratspräsidenten wie alle andere, sie werden das hinbekommen", so Lahbib.

Unklar ist im Moment noch, ob die erste Regierungskonferenz mit der Ukraine und Moldau zur beschlossenen Eröffnung von Beitrittsverhandlungen im ersten Halbjahr, also unter belgischer Führung stattfinden wird. Die Erweiterung der EU und besonders die Vorbereitung der Union auf neue Mitglieder soll ebenfalls Schwerpunkt der belgischen Präsidentschaft werden.

Dringend nötige Reformen

So wie bisher könne die EU nicht weiterarbeiten, eine Diskussion über die inneren Mechanismen und die strategischen außenpolitischen Ziele der Union sei dringend erforderlich, glaubt Janis Emmanouilidis von der Denkfabrik European Policy Centre. 2024 berge große Herausforderungen, ein mögliches Vorrücken des russischen Machthabers Wladimir Putin an EU-Grenzen, ein potentieller Rechtsruck bei den Europawahlen und eine mögliche erneute Präsidentschaft des erratischen Donald Trump in den USA.

Belgien, Brüssel | Blick auf das EU-Viertel
Europa-Viertel: Brüssel ist nicht nur Hauptstadt Belgiens, sondern auch der EU. Kommission (re.) und Ministerrat (li.) haben hier ihren Sitz.Bild: Bernd Riegert/DW

"Putin beobachtet uns. Wenn die Wahlen in Europa nicht gut ausgehen, wenn die Wahlen in den USA nicht gut ausgehen, dann könnte er uns herausfordern. Wären wir darauf vorbereitet?", fragte Janis Emmanouilidis rhetorisch bei einer Veranstaltung seiner Denkfabrik. Die alte Logik, dass die EU angesichts von Krisen immer noch eine Lösung gefunden hätte, werde dann nicht mehr funktionieren. "Die Tatsache, dass wir jetzt verstehen, wie ernst die Lage ist und brutal ehrlich miteinander sind, ist eine gute Nachricht, keine schlechte." Jetzt sei eine strategische Diskussion während der belgischen Ratspräsidentschaft überfällig.

Wahlkampf auch in Belgien

Manche Kommentatoren in belgischen Medien zweifeln, ob die belgische Regierung dazu die Kraft hat, denn parallel zu den Europawahlen finden im Juni auch Kommunal-, Regional- und föderalen Wahlen in Belgien statt. Ob die aus sieben Parteien zusammengesetzte Vivaldi-Koalition an der Macht bleiben wird, ist ungewiss. Unter dem Begriff Vivaldi sind Sozialisten, Grüne, Liberale und Christdemokraten aus allen Landesteilen mit ihren schillernden Parteifarben von Orange bis Blau vereint.

Vivaldi fällt in den Umfragen zurück. Rechte Parteien und rechtsradikale Separatisten in Flandern legen dagegen zu. Ihr Erstarken könnte eine Regierungsbildung noch komplizierter machen. Schon nach der letzten Wahl dauerte es fast 500 Tage, bis die Vivaldi-Koalition stand. 

Belgien | Polizei nachts vor dem beleuchteten Atomium-Bauwerk im Zentrum Brüssels
Polizei vor dem Atomium, dem skurrilen Wahrzeichen Brüssels: Terroranschlag am 16. OktoberBild: Sylvain Plazy/AP/picture alliance

Auf die Frage, ob der Wahlkampf im kompliziert aufgebauten Föderalstaat Belgien die Arbeit der EU-Ratspräsidentschaft behindern oder beeinflussen werde, antwortete Premier Alexander De Croo mit einem einzigen Wort: "Nein!" Er selbst dürfte wohl nicht mehr als Regierungschef zurückkehren, denn seine Partei, die flämischen Liberalen, ist den Umfragen besonders stark abgesackt.

In Belgien herrscht wieder erhöhte Terrorgefahr. Der letzte Mordanschlag eines Islamisten aus zwei schwedische Fußballfans ereignete sich nach dem Überfall der Hamas auf Israel Mitte Oktober in Brüssel. Sicherheit ist für die belgischen Wähler ein wichtiges Thema. Die hohe Zahl an Migranten, die nach Belgien kommen und nicht mehr angemessen untergebracht werden können, dürfte im Wahlkampf ebenfalls eine große Rolle spielen. 

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Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union