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PolitikSerbien

Zwei Amokläufe in zwei Tagen: Ratlosigkeit in Serbien

5. Mai 2023

Nur einen Tag nach einem Blutbad an einer Belgrader Schule tötet ein Amokläufer erneut viele Menschen. Das Land trauert und sucht nach Erklärungen.

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Ein Mädchen kniet vor Kerzen und Blumen
In Serbien herrscht nach zwei Amokläufen in zwei Tagen Trauer, Wut und FassungslosigkeitBild: Antonio Bronic/REUTERS

"Jemand müsste für all das, was jetzt geschehen ist, die Verantwortung übernehmen", sagt ein Mann in einem Belgrader Café. "Andererseits.... Solche Tragödien passieren ja immer wieder überall auf der Welt."

Der Mittfünfziger rätselt, wie zur Zeit ganz Serbien, über die Gründe, warum das Balkanland gerade zwei blutige Amokläufe binnen kürzester Zeit erlebt. Es ist nahezu das einzige Gesprächsthema in der Öffentlichkeit, bei vielen Menschen mischen sich Trauer und Wut in eigentümlicher Weise. Belgrad, normalerweise bekannt für viel Straßenlärm und ein quirliges Nachtleben, ist merkbar leiser geworden.

Ein junger Mann hält eine weinende Frau im Arm
Nach den Amokläufen in Serbien: Die Menschen trauernBild: Zorana Jevtic/REUTERS

Noch in der Schockstarre wegen des Blutbades an einer Belgrader Schule am Mittwoch, erwachte das Land am Freitag mit Nachrichten über einen weiteren Amoklauf. Diesmal: Acht Tote, 13 Verletzte, einige von ihnen schweben in Lebensgefahr.

Großfahndung

Der mittlerweile verhaftete Täter Uros B. (21), Sohn eines Armeeoffiziers, schoss am Donnerstagabend aus einer Schnellfeuerwaffe im Dorf Orasje, etwa fünfzig Kilometer südlich von Belgrad, auf Passanten. Die ersten Opfer waren fast alle junge Menschen, die sich neben der Dorfschule zu einem abendlichen Picknick mit Grill und Bier getroffen hatten.

B. tötete anschließend weitere Menschen in zwei angrenzenden Dörfern und flüchtete dann. Erst nach einer groß angelegten Fahndung mit Antiterroreinheiten, Spürhunden und Hubschraubern konnte der Täter am Freitagmorgen in Zentralserbien verhaftet werden.

Die meisten Waffen pro Kopf

Serbien ist das Land mit den meisten legalen und illegalen Waffen pro Kopf in Europa. Viele davon stammen aus der Zeit der Jugoslawien-Kriege, seitdem sind sie in privatem Besitz. Und mehr noch: Häusliche Gewalt ist ein weit verbreitetes Alltagsphänomen, ebenso wie Gangkriminalität.

Amokläufe allerdings waren bisher äußerst selten. Und nun zwei Massaker in zwei Tagen? Viele Menschen, die man auf den Straßen trifft, reagieren fast abergläubisch angesichts der jüngsten Tragödien.

Blick auf die Trauernden in einer Straße
Tausende Menschen versammelten sich nahe der Belgrader Grundschule, an der am 3.05.2023 ein 13-Jähriger neun Menschen töteteBild: Antonio Bronic/REUTERS

Erst am Mittwoch tötete ein 13-Jähriger acht seiner Mitschüler und einen Schulwächter an einer Belgrader Grundschule. Die Bluttat - sorgfältig im voraus geplant und mit den legalen Waffen des Vaters durchgeführt - beging der Junge im gutbürgerlichen Belgrader Stadtteil Vracar. Vor der Schule versammelten sich seit Mittwoch Tausende Menschen, legten weiße Blumen nieder und zündeten Kerzen an.

Suche nach Erklärungen

"Die serbische Gesellschaft ist tief traumatisiert und zugleich bewaffnet, und das seit mehr als drei Jahrzehnten", sagt der Redakteur des Belgrader Wochenmagazins Vreme, Momir Turudic, der DW. "Ich würde fast sagen, dass es ein Wunder ist, dass wir solche Untaten nicht schon früher erlebt haben."

Der Journalist ist zugleich bestürzt, dass das Land selbst in diesen Tagen entlang der tiefen politischen Gräben gespalten sei. Tatsächlich dauerte es nach dem Amoklauf an der Belgrader Grundschule am Mittwoch nicht lange, bis sich Politiker, Journalisten und Intellektuelle mit Spekulationen und Schuldzuweisungen in Medien und sozialen Netzwerken überboten.

Für die einen - unter ihnen auch Regierungsmitglieder - sind "westliche Werte", Videospiele und die Abwendung von Traditionen Schuld an den Tragödien. Die anderen machen Serbiens autokratisches Regierungssystem und ständige Hetze in den Boulevardmedien verantwortlich. Wiederum andere sehen die in Serbien weit verbreitete Vorliebe für Russland oder eben traditionelle Werte als Ursache der Amokläufe.

Titelblätter serbischer Zeitungen nach den Amokläufen
Die Amokläufe sind Topthema in den serbischen MedienBild: Nemanja Rujevic/DW

"Anstatt leise zu trauern, hatten wir wieder mit Aggression und politischen Spielen zu tun. Man konnte es fast ahnen, dass in einer solchen Atmosphäre politische Trittbrettfahrer auftreten werden", sagt Turudic der DW.

Waffengesetze sollen verschärft werden

Am Freitag trat der serbische Präsident Aleksandar Vucic erneut vor die Presse. Er regiert das Balkanland seit elf Jahren nahezu uneingeschränkt mit eiserner Hand und hält die meisten Medien an der kurzen Leine.

Vucic bezeichnete das Blutbad in den drei Dörfern als "Terrorismus" und "Angriff auf den ganzen Staat" - Belege dafür lieferte er allerdings nicht. Bisher ist unklar, aus welcher Motivation heraus der Täter handelte. Möglicherweise feuerte er nach einem privaten Streit wahllos auf Menschen. 

"Der Täter wird kein Tageslicht mehr sehen", versprach Vucic, der sich auf seiner Pressekonferenz als zupackender Übervater der Nation präsentierte. Nach seinem Wunsch soll die Strafmündigkeit von 14 auf 12 Jahre gesenkt werden. Mehr so genannte Schulpolizisten seien geplant, so Vucic. Außerdem verspricht er regelmäßige Drogentests für Kinder sowie die Blockade bestimmter Online-Inhalte. Auch die Waffengesetze sollen verschärft werden - künftig sollen bis zu 12 Jahre Haft auf den Besitz illegaler Waffen stehen. "Wir werden Serbien entwaffnen", verspricht der Präsident.

Aleksandar Vucic
Serbiens Staatspräsident Aleksandar Vucic am 3.05.2023 auf einer Pressekonferenz in BelgradBild: Darko Vojinovic/AP/picture alliance

Viele sind skeptisch, ob mehr Repressionen helfen, die Gewaltprobleme in Serbien in den Griff zu bekommen. "Man wäre gut beraten, auf Experten zu hören und nicht über Nacht mit solchen neuen Maßnahmen zu kommen", meint der Journalist Turudic. "Es ist, gelinde gesagt, unangebracht, dass sich die Regierenden und die Opposition jetzt mit gegenseitigen Anschuldigungen und schnellen Schlussfolgerungen eine politische Schlammschlacht liefern", so Turudic.

Ab diesem Freitag gilt in Serbien eine dreitägige Staatstrauer. Ob diese Woche allerdings eine nationale Katharsis und Selbstkritik im politischen und medialen System in Gang bringt? Daran scheint in Serbien keiner zu glauben.

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