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Russland: Wie Migranten für die Armee rekrutiert werden

Marina Baranovska
12. September 2023

Versuche, Einwanderer für die russische Armee anzuwerben, nehmen zu. Vor allem betrifft dies Arbeitskräfte aus Zentralasien. Menschenrechtler berichten, zu welchen Methoden und Tricks die russischen Behörden greifen.

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Arbeiter aus Zentralasien auf einer Baustelle in Moskau
Arbeiter aus Zentralasien auf einer Baustelle in MoskauBild: DW/J. Vishnevetskaya

Die russischen Behörden versuchen zunehmend, die Reihen der Armee mit Arbeitsmigranten aus Zentralasien zu füllen. Sie werden direkt von der Straße zu den Einberufungsämtern gebracht und dort überredet oder mit Drohungen und Gewalt gezwungen, Verträge mit dem Verteidigungsministerium der Russischen Föderation zu unterzeichnen.

Viele Migranten haben bislang die russische Staatsbürgerschaft angestrebt. Doch Mitte August schlug der Menschenrechtsrat beim russischen Präsidenten Änderungen der Migrationsgesetze vor, die eine Wehrdiensterfassung zu einer zwingenden Voraussetzung für den Erhalt eines russischen Passes machen. Und Ende August brachte die Kommunistische Partei den Entwurf eines Gesetzes in die russische Staatsduma ein, das es erlauben würden, "neuen Russen" die Staatsbürgerschaft wieder zu entziehen, und zwar im Falle der Kriegsdienstverweigerung, Flucht vor Mobilmachung oder unterlassener Wehrdiensterfassung.

"Liegt Mariupol in der Region Moskau?"

Dass Arbeitsmigranten für den Dienst in der russischen Armee angeworben werden, wurde erstmals kurz vor der russischen Invasion der Ukraine bekannt. Am 20. Februar 2022 veröffentlichte der usbekische Blogger Bakhrom Ismailov auf seinem YouTube-Kanal ein Video, in dem er Migranten dazu aufforderte, einen Vertrag mit dem russischen Verteidigungsministerium zu unterzeichnen, und versprach, dass sie nach sechs Monaten Dienst die russische Staatsbürgerschaft erhalten würden.

Walentina Tschupik, die als Anwältin Migranten vertritt, erhielt nach dem 22. Februar, als Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, eine Flut von Nachrichten, wonach Bürger Usbekistans, Kirgisistans, Tadschikistans, Armeniens und andere Migranten dazu überredet würden, einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium zu unterzeichnen. "Meine Kollegen und ich entdeckten ein von einem Tadschiken gefilmtes Video. Er fuhr in der Ukraine einen Lastwagen und sagte, er verstehe nicht, was passiere, er habe sich zur russischen Armee gemeldet und wisse jetzt nicht, ob er überleben werde", so die Menschenrechtsaktivistin im Gespräch mit der DW.

Walentina Tschupik berät als Anwältin Migranten
Walentina Tschupik berät als Anwältin MigrantenBild: Aschot Gazazjan/DW

Das Video mit einem Kommentar der Anwältin fand in sozialen Netzwerken weite Verbreitung. Tschupik und ihre Kollegen starteten eine Kampagne gegen die Anwerbung in die russische Armee, worauf die Zahl der Rekrutierungen zurückging. Im Sommer 2022 begann das russische Verteidigungsministerium schließlich, Migranten für Bauarbeiten in Luhansk, Donezk und Mariupol, also in den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine, anzuwerben. Tschupik sagt, dass Menschen aus Zentralasien, denen nicht klar gewesen sei, worum es ging, in ganzen Brigaden entsprechende Verträge unterschrieben hätten.

"Im Oktober riefen mich Leute aus Usbekistan an und fragten, ob Mariupol in der Region Moskau liege. Es stellte sich heraus, dass ihre Gehälter dort, wo sie arbeiteten, zurückgehalten wurden, und eine große Gruppe von ihnen unterzeichnete einen Vertrag für Bauarbeiten, angeblich irgendwo in der Region Moskau. Sie wurden in Busse mit zugeklebten Fenstern gesetzt und in eine unbekannte Richtung gebracht - 20 Busse mit jeweils 53 Personen. Als sie ankamen, sahen sie nur Ruinen, und sie begannen zu begreifen, dass dies nicht die Region Moskau sein kann. Jemand von ihnen hatte meine Telefonnummer und sie kontaktierten mich. Ich war entsetzt und begann, die Botschaften Usbekistans in Russland und der Ukraine anzurufen. Aber der Kontakt zu den Arbeitern brach ab. Wahrscheinlich haben sie Verträge mit dem Verteidigungsministerium unterzeichnet, denn die Wachen, von denen sie begleitet wurden, berichteten, dass sie zur Armee gebracht wurden", so Tschupik.

Per Täuschungsmanöver zur russischen Armee

Bald wurden Menschenrechtsaktivisten auf einen weiteren Trick aufmerksam, mit dem die russischen Behörden versuchen, die Armee mit Menschen aus Zentralasien aufzufüllen. Im Migrationszentrum Sacharowo in Moskau, wo man alle möglichen Dokumente erhalten kann, von einer Arbeitserlaubnis bis hin zu einer Aufenthaltsgenehmigung, wurden Männer durch Täuschung dazu gebracht, Verträge mit der russischen Armee zu unterschreiben.

"Man legt ihnen einen ganzen Stapel Dokumente zur Unterschrift vor, bis zu 40 Blatt, und man gibt ihnen eine halbe Minute Zeit zum Durchlesen. Hinter ihnen steht eine riesige Schlange und es bleibt keine Zeit zum Lesen. Viele unterschreiben einfach, ohne hinzusehen. Später stellt sich heraus, dass sie einen Vertrag für den Dienst in der russischen Armee unterzeichnet haben. Die Menschen geraten dann in Panik, rufen an und fragen, was sie tun sollen. Es gibt viele Fälle, wo Migranten trotz Aufenthaltserlaubnis alles aufgegeben und Russland schnell verlassen haben", sagt Tschupik.

Rekrutierung von Ausländern in Gefängnissen

Versucht wird auch, Migranten in die Armee zu rekrutieren, die gegen russisches Recht verstoßen haben und in Haftanstalten auf ihre Abschiebung warten. "Ihnen wird angeboten, einen Vertrag mit der Armee einzugehen, in dem versprochen wird, dass sie nach sechs Monaten Dienst einen russischen Pass bekommen. Wenn dies nicht funktioniert, werden die Menschen eingeschüchtert und man droht ihnen, dass sie den Rest ihres Lebens hinter Gittern verbringen werden", so Tschupik. Auch Ausländer, die in Gefängnissen Strafen verbüßen, würden rekrutiert. Man versuche sie mit Schlägen, Folter und angedrohter Vergewaltigung zum Dienst in den russischen Streitkräften zu bringen.

Wachturm eines russischen Gefängnisses
Wachturm eines russischen GefängnissesBild: Filipp Kochetkov/Tass/imago images

"Im Januar 2023 kontaktierte mich der Vater eines Mannes, der eine Strafe im Gefängnis Nr. 6 in der Stadt Wladimir verbüßt. Er sagte, dass dort ein khakifarbener Wagen vorgefahren sei, mit dem alle Gefangenen nicht-slawischer Abstammung in unbekannte Richtung abtransportiert wurden. Es hieß, sie würden in zwei Wochen wiederkommen. Der junge Mann, der davon erzählte, war völlig entsetzt. Er lag mit einer Grippe auf der Krankenstation und musste deshalb nicht antreten. Ich wandte mich an Journalisten, sie schickten eine Anfrage an das Gefängnis, und als zwei Wochen später dort wieder ein solcher Wagen vorfuhr, sagte der Gefängnisleiter, er brauche keine unnötigen Probleme und schickte die Rekrutierer wieder weg", sagt Tschupik.

Die Menschenrechtlerin erzählt weiter, zur gleichen Zeit habe sie viele Briefe mit Berichten aus Gefängnissen im ganzen Land erhalten. So habe der Leiter eines Gefängnisses in Mordwinien den Rekrutierern mitgeteilt, dass seine Vorgesetzten im mordwinischen Strafvollzugsdienst es nicht erlauben würden, Menschen wegzubringen. Hingegen habe der Leiter eines Gefängnisses in Irkutsk Insassen gezwungen, Verträge mit der Armee zu unterschreiben. Dabei habe er mit längerer Haft unter härteren Bedingungen gedroht.

Staatsbürgerschaft nur mit Wehrdiensterfassung

Am 15. Mai unterzeichnete der russische Präsident Wladimir Putin ein Dekret über die vereinfachte Vergabe der russischen Staatsbürgerschaft an Ausländer, die einen Einjahresvertrag mit der russischen Armee abschließen. Seitdem kommt es immer häufiger vor, dass Ausländer, die eine Einbürgerung beantragen, wegen einer Bescheinigung zum Einberufungsamt geschickt werden. Dort wird dann versucht, sie zum Abschluss eines Vertrags mit der Armee zu zwingen.

Swetlana Gannuschkina sieht zunehmenden Druck auf Migranten
Swetlana Gannuschkina sieht zunehmenden Druck auf MigrantenBild: DW

"Ohne eine Bescheinigung des Einberufungsamtes werden von den Menschen keine Dokumente akzeptiert, die sie für die Einbürgerung einreichen müssen. Das ist völlig illegal, es gibt diesbezüglich keine schriftlichen Anordnungen. In einigen Regionen kommt dies regelmäßig vor, in manchen selten und in manchen überhaupt nicht", sagt Swetlana Gannuschkina, Vorsitzende der gesellschaftlichen Organisation "Bürgerunterstützung", die sich für Flüchtlinge und Vertriebene engagiert. Die Aktivistin gehört auch dem Vorstand des Menschenrechtszentrums "Memorial" an. Die Versuche zur Zwangsrekrutierung von Ausländern führt sie auf den Wunsch der russischen Behörden zurück, die Zahl der Soldaten in den russischen Streitkräften zu erhöhen.

Walentina Tschupik wiederum bringt den Druck auf Migranten mit den Misserfolgen Russlands an der Front, aber auch mit den Regionalwahlen und "mit dem traditionellen russischen Rassismus und Nazismus" in Verbindung. Dieser werde heute als staatliche Ideologie gepflegt. "Vor jeder Wahl in Russland wird eine Phobie gegen Migranten geschürt. Jetzt hat man sich eine neue Form davon ausgedacht, und zwar die Zwangsrekrutierung. Es werden diejenigen entführt und rekrutiert, die sich am wenigsten wehren können", so die Aktivistin.

Heimatländer verfolgen Söldnertum

In allen Ländern Zentralasiens gilt der Dienst in der Armee eines fremden Staates als Straftat und wird als Söldnertum verfolgt. Daher werden Migranten, die einen Vertrag mit dem russischen Verteidigungsministerium unterschrieben haben, bei einer Rückkehr in ihr Heimatland dafür belangt. Die Freiheitsstrafen reichen in Tadschikistan von fünf bis 12 Jahre, in Usbekistan von fünf bis zehn Jahre und in Kirgisistan zehn bis 12 Jahre.

Karte Zentralasien DEU

Die Botschaften dieser Länder warnen unterdessen ihre Bürger, dass die Teilnahme an Kampfhandlungen auf dem Territorium ausländischer Staaten strafbar ist. Der islamische Klerus Usbekistans hat sogar eine Fatwa erlassen, wonach Muslimen eine Beteiligung am Krieg Russlands gegen die Ukraine verboten ist. Die Behörden Tadschikistans haben inzwischen Listen tadschikischer Söldner erstellt, die in der Ukraine in den Reihen der russischen Armee kämpfen. Und in Bischkek wurde im Mai 2023 ein kirgisischer Bürger wegen Söldnertums zu zehn Jahren Haft verurteilt, weil er ein Jahr lang für die russischen Truppen in der Ukraine gekämpft hatte und dann nach Kirgisistan zurückgekehrt war.

Derzeit ist unklar, wie viele Menschen aus zentralasiatischen Ländern für die russische Armee auf dem Territorium der Ukraine kämpfen. Einigen Berichten zufolge könnten es Zehntausende Migranten sein, die für die russische Armee rekrutiert wurden.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk