1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Wenn Kulturprominenz beim Wahlkampf mitmischt

7. September 2021

Der Wahlkampf geht in die heiße Phase - auch in der Kultur. Künstlerinnen und Künstler machen Werbung für eine Partei, so wie "Ärzte"-Schlagzeuger Bela B.

https://p.dw.com/p/3zxi8
Bela B. sitzt am Schlagzeug und strahlt in die Menge.
Bela B. ist ein Mensch, der sich prinzipiell gerne einmischt: Er engagierte er sich auch für die Tierschutzorganisation PetaBild: Rolf Vennenbernd/dpa/picture alliance

"Willy wählen!", skandierten viele Kulturschaffende in den 1960er- und 1970er-Jahren, als sie für Sozialdemokraten Willy Brandt die Wahlkampf-Trommel rührten. Einer der bekanntesten Vertreter unter ihnen war Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass. "Helmut weg", hieß es knapp drei Jahrzehnte später, als SPD-Mann Gerhard Schröder 1998 den christdemokratischen Langzeitkanzler Helmut Kohl an der Spitze der deutschen Bundesregierung ablösen wollte. Auch dieses Mal schalteten sich prominente Namen aus der Kulturszene in den Wahlkampf ein; mit unter anderem Ex-Beatle Paul McCartney oder Filmregisseur Martin Scorsese erhielt Schröder sogar international Unterstützung.

Willy Brandt gibt flankiert von seinem Wahlkampfteam ein Interview, neben ihm sitzt Günter Grass.
Wahlkampf im Jahr 1976: Günter Grass (links) geht mit Willy Brandt (Mitte) auf WahlkampftourBild: picture alliance/Dieter Klar

Und wie sieht die Unterstützung aus der Kulturszene bei der diesjährigen Bundestagswahl aus? Womöglich weniger lautstark, dafür nicht weniger prominent. Der Klimawandel ist eines der wichtigsten Themen dieser Wahl, und so kommt es nicht von ungefähr, dass sich Kulturschaffende vermehrt für die Grünen und ihre Kandidatin Annalena Baerbock aussprechen. So veröffentlichte Bela B. von "Die Ärzte" eine Wahlempfehlung, der sich mehr als 30 weitere Künstlerinnen und Künstler anschlossen: darunter Sängerin Judith Holofernes von "Wir sind Helden", Autor und Musiker Sven Regener, Bestsellerautor Frank Schätzing, Regisseur Leander Haußmann und viele weitere.

"Die Menschheit steht vor der größten Herausforderung ihrer Geschichte. Die Klimakatastrophe infolge der von Menschen verursachten globalen Erwärmung droht nicht, sie findet statt", schreibt Bela B., der Mitbegründer der deutschen Punkrockband, in einem Facebook-Post, der bis dato über 6000 Mal geteilt und fast 12.000 Mal gelikt wurde.

Auch Pianist Igor Levit gab kürzlich bekannt, dass er sich für die Umweltpartei beim diesjährigen Wahlkampf engagieren wolle - in welcher Form ließ er noch offen. Natürlich haben auch die anderen großen Parteien prominente Unterstützer: So sympathisiert etwa Autorin Juli Zeh mit der SPD, genauso wie die in Deutschland beliebte Schauspielerin Iris Berben, Uschi Glas ist bekennende CDU-Wählerin, ihr populärer Schauspielkollege Heiner Lauterbach ebenfalls. Für mediale Aufmerksamkeit sorgte auch Paul van Dyks Eintritt in die FDP: Auf den ersten Blick passt das Image des Techno-Stars nicht so wirklich zu der liberalen Partei, die im Ruf steht, eher eine Zahnarzts- oder Anwaltspartei zu sein, als eine, die unter Künstlern beliebt ist.

Eine neue Debattenkultur

Nichtsdestotrotz scheint es diesen lautstarken Wahlkampf Kulturschaffender, wie ihn einst die Schriftsteller Günter Grass oder Martin Walser oder auch der Plakatkünstler Klaus Staeck  betrieben, nicht mehr zu geben - und auch die "Arenen" sind heute andere.

"Die Kulturstimmen, die sich jetzt einschalten, sind nicht unbedingt große Schriftsteller, sondern Blogger oder Influencer, wie etwa Rezo, der extrem einflussreich ist, wenn es etwa darum geht, das CDU-Programm zum Klimawandel zu zerreißen", so Joachim Helfer. Der Schriftsteller und Publizist hat 2017 mit "Wenn ich mir etwas wünschen dürfte" ein Buch herausgegeben, in dem Intellektuelle ihre Wünsche an die Politik formulieren.

Generell stellt Helfer heute unter Deutschlands Kulturschaffenden eine Abneigung fest, "sich vor den Karren einer bestimmten Partei spannen zu lassen".

"In den goldenen Zeiten, den 1970er- und 1980er-Jahren" seien die Kampagnen im Grunde genommen Debatten zwischen einer sehr begrenzten Anzahl von Menschen von Menschen gewesen, die sich maßgeblich in den Feuilletons der großen Zeitungen abgespielt hätten: "Und das war eine nationale Debatte. Und jeder hat es gelesen."

Jetzt aber gebe es eine Spaltung der Gesellschaft, die auch eine Vielzahl von politischen Nischenthemen, wie etwa die Debatte um das Gendern in der Sprache, hervorgerufen habe: "Was jetzt also fehlt, ist ein Wahlkampf, in dem es wirklich um Inhalte geht, um konkurrierende Programme innerhalb Deutschlands, an denen sich Intellektuelle aus allen Schichten, aus allen Subsystemen der Gesellschaft gleichermaßen beteiligen", so Helfer weiter. 

Programme statt Parteien im angelsächsischen Raum

Auf der anderen Seite des Atlantiks, in den Vereinigten Staaten, sind Hollywood- und Musikstars sehr viel weniger zurückhaltend, wenn es darum geht, die Trommel für ihre Kandidaten zu rühren: So engagierte sich George Clooney für Hillary Clinton und dann für Barack Obama, Clint Eastwood stärkte erst Mitt Romney, dann Donald Trump den Rücken. Ariana Grande warb 2020 für Bernie Sanders und Cher für Joe Biden.

Clint Eastwood steht an einem Rednerpult. Im Hintergrund sieht man die US-amerikanische Flagge.
Schauspieler Clint Eastwood war selbst politisch aktiv: Von 1986 bis 1988 war er Bürgermeister in KalifornienBild: Reuters

Eine solche massive Einmischung seitens der Kulturschaffenden scheint im Deutschland der 2020er-Jahre undenkbar. Doch woran liegt das? "Der wichtigste Unterschied ist, dass es dort das "First past the post"-System, das Mehrheitswahlrecht, gibt", so Joachim Helfer. Während in Deutschland diejenige Partei gewinnt, die die absolute Mehrheit, also mehr als die Hälfte der Stimmen erreicht, genügt es in den USA, wenn der Kandidat oder die Kandidatin die meisten Stimmen der Wahlleute- "the winner take all" ("der Gewinner bekommt alles") der jeweiligen Bundesstaaten auf sich vereinen kann. Es kann also passieren - wie bei Donald Trump - , dass ein Kandidat gewinnt, der prozentual nicht die meisten Wählerstimmen bekommen hat. 

"Viele Bürger in den USA haben deswegen das Gefühl, dass, wenn die andere Seite gewinnt, sie wirklich aufhören, Bürger ihres eigenen Landes zu sein", so Helfer. "Wenn man diese brutale Polarisierung im Wahlsystem hat, dann wird es zu einer Frage des Überlebens."

Eine Frage des Überlebens - zumindest des Überlebens im Kanzleramt - wird es womöglich für die CDU werden. Zuletzt sahen die Umfragewerte der christdemokratische Partei miserabel aus. Generell scheint der Ausgang dieser Wahl ungewiss. Womöglich ruft das auf den letzten Metern doch noch weitere deutsche Kulturschaffende auf den Plan, die sich ganz in der Tradition von Grass und Co. am Wahlkampf beteiligen.