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Nigel Kennedy: Ich mag es, wenn die Musik atmet

28. April 2010

Geflickte Jacke, Stiefel und Punkfrisur. Nigel Kennedy brachte die Rockfans dazu, Vivaldi zu hören, spielte Klezmer, Hendrix oder Jazz und ist einer der großen Stars der Klassik-Szene.

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Bild: AP

Das Violinkonzert in E-Dur von Johann Sebastian Bach ist eines von nur zwei vollständig überlieferten Violinkonzerten aus der Feder des großen Meisters. Dementsprechend häufig wird es gespielt, aber in der Interpretation von Nigel Kennedy lässt sich zunächst nichts Neues erkennen. Allein ein Blick auf die Bühne verrät, dass hier kein gewöhnliches Orchester spielt: Kennedy ist derzeit erstmals in Deutschland mit seinem ‚Orchestra of Life’ zu hören, einem klassisch besetzten Kammerorchester ohne Bläser, allerdings mit integrierter Jazzband. Tatsächlich spielen auch Marimbafon und Schlagzeug bei den Bachstücken mit, allerdings so leise, dass es kaum auffällt.


Ellington mit Streichern

Nigel Kennedy: Bach mit Jazzband (Foto: picture alliance/dpa)
Nigel Kennedy: Bach mit JazzbandBild: picture-alliance/dpa

Anders dagegen die Duke Ellington Kompositionen, die im steten Wechsel mit Stücken von Bach zu hören sind: Hier spielt nicht nur die Jazzband, sondern auch das Orchester eine wesentliche Rolle, übernimmt es doch den Part der Big Band. Nigel Kennedy hat sich die Arrangements des Dukes ganz genau angehört und auf das Streichorchester übertragen: "Mein Orchester sollte lernen, zu swingen und da ist der Meister Ellington gerade recht, denn Ellington swingt ungemein…", sagt Kennedy. Zwar würde er Ellington auch gerne einmal mit einer richtigen Big Band spielen, aber das sei ein anderes Projekt. Schließlich gibt es nur wenige gute Big Bands, die auch Bach, Vivaldi oder Telemann spielen können. "Es ist einfacher, die Streicher swingen zu lassen, als eine Big Band den Klassik-Kram beizubringen."

Und tatsächlich swingt das Orchestra of Life bei Stücken wie "Cotton Tail", "Prelude to a kiss" oder "In a Jam" ungemein. Allerdings können Kontrabässe, Celli und Bratschen die Durchschlagskraft der Blechbläser einer Big Band nicht ersetzen. So fehlt den Ellington-Interpretationen in den schnellen Passagen der letzte Biss, die ruhigeren Stücke dagegen kommen wunderbar weich und mit vollendeter Klangschönheit daher.

Von Bach über Ellington zu Kennedy

Nicht nur Stücke von Bach und Ellington, sondern auch eigene Kompositionen präsentiert Nigel Kennedy auf seiner jüngsten Tournee. Sie entstammen seiner neuen Jazz-CD mit dem Titel "Shhh". Das ist eine deutliche Aufforderung ruhig zu sein, gerichtet natürlich nicht an das höflich lauschende Publikum im Konzertsaal, sondern an die lärmende Hörerschaft eines Jazzclubs. Und es ist ein Tribut an die Stille "Ich mag es, wenn die Musik atmen kann – Miles Davis oder Pablo Casals, das sind Musiker, die mit der Stille arbeiten und bis ca. 1930 war es so, dass jede gute Musik aus der Stille kam. Das hat sich geändert, das Leben ist elektrifiziert, es ist schneller und lauter geworden", erklärt Kennedy. Populäre Musik sei oft von Klängen der Strasse inspiriert. "Ich hingegen brauche Ruhe, wenn ich komponiere. Man muss in sich kehren, sonst bekommt man keine eigenen Ideen, sondern nur die Ideen anderer Leute" - so Kennedy.

Virtuoses Geplapper

CD-Cover Kennedy plays Bach (Foto: Emi Classics)
Bild: EMI Classi

Im Gegensatz zu Kennedys Einlassungen über Stille und Raum in der Musik steht sein Hang zur Geschwätzigkeit. Musikalisch ist dieser Mann über alles erhaben und allzu oft lässt er sich hinreißen von seiner Virtuosität, sowohl auf der Bühne, als auch auf CD. Dann jagt ein Ton den nächsten, gerne auch verzerrt oder zu laut und bald fühlt man sich als Hörer etwas ermüdet. Und auch im Interview zeigt sich Kennedy von zwei Seiten. Einerseits als intelligenter, konzentrierter und humorvoller Gesprächspartner, der im nächsten Augenblick abgelenkt ist von den schönen jungen Frauen seines Orchesters, von Bekannten und Freunden, die nach dem Konzert in seiner Garderobe aus und ein gehen: "Das gängige Klischee über Musiker der Klassikszene ist ja, das sie ganz bieder und geradlinig sind. Das sehe ich anders. Ich denke, dass heutzutage vor allem Rockmusiker zielstrebig sind, mit Businessplänen und allem drum und dran. Die Klassiker von heute sind eher wie die Rockmusiker aus den 70er Jahren, sie haben sich schlussendlich befreit und machen eine Party."

Ein Rocker mit Charme

Shhh! von Nigel Kennedy
Shhh: Für Nigel Kennedy kommt gute Musik aus der StilleBild: EMI Classi

Nigel Kennedy gibt sich Mühe, den durchgeknallten Star mit Hang zu Sex, Drugs und Rock’n’Roll zu geben. Auch auf der Bühne nimmt er kein Blatt vor den Mund, z.B. wenn er einen Mann aus der ersten Reihe fragt, ob er eine Haschzigarette in der Tasche hätte. Das alles macht er allerdings mit so viel Charme und Witz, dass es am Ende meistens doch nicht peinlich wird. Außerdem vermittelt er stets den Eindruck, dass er ein herzensguter Typ ist: Wer als Fan nur lange genug wartet, wird dann auch schon mal in den Backstage-Bereich gerufen. Damit ist Nigel Kennedy auch ein Star zum Anfassen, einer der sich gängigen Kategorien entzieht und doch ungemein erfolgreich ist. Denn vor allem ist Kennedy ein begnadeter Musiker, der seine Zuhörer immer wieder überrascht, auf der jüngsten CD mit einer Aufnahme des Nik Drake Klassikers "Riverman", gesungen von Boy George, den man zuletzt vor Jahrzehnten mit seiner Band "Culture Club" wahrgenommen hat.

Autor: Jan Tengeler

Redakteur: Matthias Klaus