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Ukraine: Was die Autorin Victoria Amelina hinterlässt

4. Juli 2023

Die Schriftstellerin Victoria Amelina ist nach einem russischen Raketenangriff gestorben. Weggefährte hoffen, dass ihr Werk helfen wird, Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen.

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Porträt der ukrainischen Schriftstellerin und Aktivistin Victoria Amelina
Victoria Amelina am 22. Juni 2023 bei einer Veranstaltung in KiewBild: Alex Zakletsky/AP/picture alliance

"In großem Schmerz teilen wir mit, dass am 1. Juli im Metschnikow-Krankenhaus in der Stadt Dnipro das Herz der Schriftstellerin Victoria Amelina aufgehört hat zu schlagen. Sie erlag lebensbedrohlichen Verletzungen, hervorgerufen durch einen Raketenangriff der russischen Okkupanten auf ein Restaurant in Kramatorsk", heißt es in einer Mitteilung des ukrainischen PEN-Clubs, dem Victoria Amelina angehörte. "Flieg in die Ewigkeit, heller Vogel!", schrieben Künstler, Aktivistinnen, Journalisten und Verlegerinnen in sozialen Netzwerken zum Tod der ukrainischen Schriftstellerin. Am 27. Juni, als die russische Armee Kramatorsk beschoss, hielt sich die 37-Jährige mit einer Delegation kolumbianischer Journalisten und Schriftsteller im Zentrum der Stadt im Osten der Ukraine auf.

Zwei Romane, ein Kinderbuch und Auszeichnungen

Victoria Amelina wurde in Lwiw im Westen der Ukraine geboren. Während ihrer Schulzeit wanderte sie mit ihrem Vater nach Kanada aus, entschloss sich aber später, in die Ukraine zurückzukehren. Sie studierte an der Polytechnischen Universität Lwiw, arbeitete für internationale Technologieunternehmen und widmete sich schließlich der Schriftstellerei. Sie ist Autorin von zwei Romanen und einem Kinderbuch sowie Trägerin des Joseph-Conrad-Preises, der an junge ukrainische Schriftsteller verliehen wird.

2014 debütierte Amelina mit dem Roman "Das November-Syndrom oder Homo Compatiens". Das Buch wurde 2014 in die Top Ten der Bewertung von "LitAccent​​", einem ukrainischen Webportal über moderne ukrainische und ausländische Literatur, aufgenommen, und 2015 wurde das Buch auf die Shortlist des ukrainischen Walerij-Schewtschuk-Preises gesetzt. Ihr 2017 im Lwiwer Verlag "Alter Löwe" erschienener Roman "Ein Haus für Dom" wurde beim Literaturfestival "Toloka" in Saporischschja als bestes Prosabuch des Jahres ausgezeichnet. Zudem kam es auf die Shortlists einiger ukrainischer und internationaler Auszeichnungen. Im Jahr 2016 erschien Victoria Amelinas Kinderbuch "Irgendwer, oder Wasserherz". Amelinas Werke wurden ins Polnische, Tschechische, Deutsche, Niederländische und Englische übersetzt.

Dokumentation von Kriegsverbrechen

"Die ukrainische Literatur hat eine sehr reife Schriftstellerin verloren", sagt Marjana Sawka, Autorin und Chefredakteurin beim Verlag "Alter Löwe" im Gespräch mit der DW. Ihr zufolge hat Amelina über schmerzvolle Kapitel von Russlands Krieg gegen die Ukraine geschrieben, weil sie sich ständig selbst im Epizentrum des Geschehens befand. "Sie war ganz nah an der Front, bei Kindern, die ihr Zuhause und ihre Eltern verloren haben, bei Frauen, die in diesem Krieg alles verloren haben, und auch bei Soldaten", so Sawka.

Im Sommer 2022 trat Amelina der Menschenrechtsorganisation "Truth Hounds" bei und arbeitete fortan mit dem Team an der Dokumentation von Kriegsverbrechen in den von der ukrainischen Armee bereits befreiten Gebieten im Osten, Süden und Norden der Ukraine. Gleichzeitig begann sie mit der Arbeit an ihrem ersten englischsprachigen nicht fiktiven Buch "War and Justice Diary: Looking at Women Looking at War". In dem Buch, das bald im Ausland erscheinen soll, berichtet Amelina über Frauen, die ihr Leben im Krieg und Verbrechen der russischen Besatzer selbst dokumentiert haben.

Trümmer des Restaurants in Kramatorsk nach dem Einschlag einer russischen Rakete
Trümmer des Restaurants in Kramatorsk nach dem Einschlag einer russischen RaketeBild: Donetsk regional administration/AP/picture alliance

"In dieser zerbrechlichen jungen Frau steckte so viel Kraft, so viel Tiefe und Talent - und vor allem Güte. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft hat, das zu tun, was sie getan hat: in die Augen der Menschen zu schauen, die von den Besatzern Leid erfahren haben, und dabei ruhig aufzuschreiben, was man sich nicht in Ruhe anhören kann", schrieb die ukrainische Schriftstellerin Irena Karpa.

Amelinas Kollegen meinen, all diese Einblicke hätten ihrer Kreativität einen neuen Impuls verliehen. "Die Erfahrung, Verbrechen zu dokumentieren, übertrug sich auf sie als Schriftstellerin und Dichterin, denn sie begann, sehr starke Gedichte zu schreiben. Ihre Poetik erwächst aus diesen dokumentarischen Beweisen", erläutert Marjana Sawka. Sie hofft, dass die Familie der Schriftstellerin ermöglicht, eine Sammlung von Victoria Amelinas poetischen Werken herauszugeben, damit möglichst viele Menschen von ihrem Werk erfahren, das aus den während des Krieges erlebten Emotionen entstanden ist.

"Es schien, als ob sie versuchte, die ganze Trauer in ihrem Herzen aufzufangen, sie durch sich hindurchgehen zu lassen. Sie war die Erste, die half und da war. Sie machte sich manchmal Sorgen, dass ihre Kraft nicht ausreichen werde, um das Ausmaß der Katastrophe zu bewältigen, die über uns gekommen ist. Sie bemühte sich, dass allen, um die sie sich kümmerte, geholfen wird", schrieb die Leiterin des Menschenrechtszentrums "ZMINA", Tetjana Petschontschyk, auf Facebook.

"Im wahrsten Sinne des Wortes prophetisch"

Es war Victoria Amelina, die das Tagebuch des von den russischen Besatzern getöteten Schriftstellers aus Isjum, Wolodymyr Wakulenko, fand, begraben in einem Garten im Dorf Kapitoliwka. Später schrieb sie im Vorwort zu seinem Buch "Ich verwandle mich... Tagebuch der Besatzung. Ausgewählte Gedichte", dass sie sich inmitten einer "erneuten erschossenen Wiedergeburt" befinde. Der Begriff bezeichnet die Ereignisse in den 1930er-Jahren, als zahllose ukrainische Schriftsteller, Publizisten und Künstler, die in den 1920er-Jahren eine kulturelle Renaissance in der Ukraine voranbrachten, durch das kommunistische Sowjetregime inhaftiert und hingerichtet wurden oder in Straflagern ums Leben kamen.

"Wir hätten nicht gedacht, dass diese Festellung von Victoria Amelina im wahrsten Sinne des Wortes so prophetisch sein würde", sagt Marjana Sawka und fügt hinzu, dass die junge Schriftstellerin nun selbst Opfer dieser "erneuten erschossenen Wiedergeburt" geworden sei. Und dass Amelina ausgerechnet an Wolodymyr Wakulenkos Geburtstag gestorben sei, habe eine "schreckliche Symbolik", denn Amelina habe sich nach dem Tod des von den russischen Besatzern ermordeten Schriftstellers um dessen Eltern und seinen Sohn gekümmert, so Sawka.

Ukrainische Kulturschaffende hoffen, dass die Mörder von Victoria Amelina und Wolodymyr Wakulenko früher oder später bestraft werden. "Eines Tages wird ihre Arbeit dazu beitragen, Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen, denn nur so kann der Kreislauf der Gewalt durchbrochen werden", schreibt die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk