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Ukraine-Krieg: Wenige Kriegsgegner in Russland

Sergej Guscha
1. November 2023

Die Gegner von Russlands Krieg gegen die Ukraine und des Regimes von Wladimir Putin haben keinen nennenswerten Zulauf. Woran liegt das?

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Ein Mann in einer Gruppe hält ein Plakat bei einer Demo mit der Aufschrift "Kein Krieg"
"Kein Krieg" steht auf dem Plakat, aber die Anzahl der Kriegsgegner in Russland bleibt niedrigBild: Gavriil Grigorov/TASSpicture alliance/dpa

Auch eineinhalb Jahre nach Beginn der umfassenden russischen Invasion in der Ukraine ist die Unterstützung für den Krieg und die Politik von Präsident Wladimir Putin in der russischen Gesellschaft praktisch unverändert. Das stellt der Soziologe Lew Gudkow, wissenschaftlicher Direktor des russischen Lewada-Zentrums, fest. Es gilt als das einzige vom russischen Staat oder staatlichen Zuschüssen unabhängige Meinungsforschungsinstitut. 2016 wurde es in Russland als "ausländischer Agent" eingestuft.

Die Zahl der Russen, die gegen den Krieg sind, liegt demnach stabil bei 18 bis 22 Prozent. Unter ihnen sind mehr junge Menschen und etwas mehr Frauen als Männer. Doch diese Gruppe, so der Experte, wachse nicht. Bei einer Podiumsdiskussion, die von der Deutschen Sacharow Gesellschaft gemeinsam mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde in Berlin veranstaltet wurde, nannte Gudkow die Gründe, warum die Zahl der Kriegsgegner in Russland nicht zunimmt.

Strenge Zensur in Russland

Einer der Gründe sei die "extrem strenge Zensur", die den Großteil der Bevölkerung in Russland von unabhängigen Informationsquellen abschneidet. Die Mehrheit der Russen stehe weiterhin unter dem Einfluss staatlicher Propaganda. Diese Menschen würden keine Informationen per Internet erhalten.

Zwar sei die Anzahl derer, die in der Lage gewesen seien, die Zensur und Blockaden sozialer Netzwerke zu umgehen und so Nachrichten von Medien im Internet zu lesen, seit Beginn des Krieges innerhalb weniger Monate von rund sechs auf 22 Prozent gestiegen. Doch eine weitere Zunahme habe es dann nicht mehr gegeben.

Portrait von Lew Gudkow
Lew Gudkow leitet seit 2006 das russische Meinungsforschungsinstitut Lewada-ZentrumBild: Horst Galuschka/dpa/picture alliance

Da "jede Nachricht über russische Kriegsverluste absolut verboten ist", hat laut Gudkow auch das Thema Verluste nach wie vor keinen Einfluss auf die Stimmung der Russen. In einem Interview mit der DW im April 2022 war der Soziologe noch davon ausgegangen, dass sich die Haltung der Russen gegenüber dem Krieg drastisch ändern könnte, sollte Russland eine Niederlage erleben oder der Krieg sich hinziehen, was einen Anstieg der Opferzahlen bedeuten würde.

Bis Ende Oktober konnten Journalisten die Namen von 34.857 russischen Militärangehörigen identifizieren, die in der Ukraine ihr Leben verloren haben. Diese Zahlen nennt der russischsprachige Dienst der BBC, der zusammen mit Mediazona und einem Team von Freiwilligen anhand offen zugänglicher Daten Statistiken zu den russischen Verlusten führt. Mediazona ist ein unabhängiges russisches Medienprojekt. 2021 wurde es von den russischen Behörden ebenfalls auf die Liste der "ausländischen Agenten" gesetzt und 2022 aufgrund der Berichterstattung über Russlands Krieg gegen die Ukraine im russischen Internet gesperrt.

Offiziell wurden in Russland während des gesamten Krieges nur zweimal Verluste gemeldet. Diese Angaben haben jedoch "nichts mit der Realität zu tun", stellt Gudkow klar. So hatte das russische Verteidigungsministerium erstmals im September 2022 Verluste in der Ukraine eingeräumt und mitgeteilt, dass etwa 5.937 Russen im Krieg gefallen seien. Darüber hinaus bestätigte das Ministerium den Tod von 89 Militärangehörigen infolge eines ukrainischen Raketenangriffs auf eine russische Militärunterkunft in Makijiwka im Gebiet Donezk in der Neujahrsnacht 2022 auf 2023.

Mehr Sold und Entschädigungen

Gudkow weist ferner darauf hin, dass sich zudem noch nicht alle Prognosen bewahrheitet hätten, wonach der Krieg die wirtschaftliche Lage in Russland verschlechtern würde. Der Krieg habe im ersten Jahr zu steigenden Ölpreisen geführt und so dem Staat und damit auch Teilen der Bevölkerung mehr Einnahmen gebracht. Die Wirtschaftszweige, die für den Krieg produzieren würden, seien voll ausgelastet. Die Löhne hätten sich dort verdoppelt.

Russische Rekruten gehen auf einem Bahnhof in der Region Wolgograd zum Zug
Russische Rekruten gehen auf einem Bahnhof in der Region Wolgograd zum ZugBild: dpa/AP/picture alliance

Zudem sind sowohl der Sold, den die für den Kriegsdienst eingezogenen Russen oder Vertragssoldaten nun erhalten, als auch die Entschädigungen an Verwundete oder Familien getöteter Soldaten, die meist vom Lande stammen, deutlich gestiegen. Sie seien mit den Zahlungen aus der Zeit vor dem Krieg nicht vergleichbar, sagt Gudkow. In den russischen Provinzen hätten die Menschen solche Beträge noch nie gesehen und könnten sie in ihrem ganzen Leben auch nicht verdienen. Aus diesem Grund würden keine Proteste laut.

Doch Gudkow merkt auch an, dass in Russland aufgrund der hohen Kriegskosten eine hohe Inflation herrscht. In allen aktuellen Umfragen würden die Menschen im Land die steigenden Preise, insbesondere für Lebensmittel und Medikamente, für ihr größtes Problem halten. Dies sei ihnen wichtiger als der Krieg. Jedoch würden die meisten Russen keinen Zusammenhang zwischen den Militärausgaben und deren Auswirkungen auf das Alltagsleben sehen. Nur zehn bis 12 Prozent der vom Lewada-Zentrum befragten Personen - hauptsächlich Beamte und ein Teil der Mittelschicht - seien sich dieses Zusammenhangs bewusst. Einerseits wachse bei ihnen die Angst vor einer Katastrophe als Folge der jetzigen Politik in Russland, so Gudkow, andererseits blieben sie dem Regime dennoch treu ergeben.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

Stiller Protest gegen den Krieg