Seismografen des Wandels
14. März 2014Egal, ob auf den langen Messefluren, vor Lesungen oder Preisverleihungen - überall hört man Menschen leidenschaftlich über die Ukraine diskutieren. Der traditionelle Osteuropa-Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse hat in diesem Jahr einen aktuellen politischen Anstrich bekommen. Alles dreht sich um die Krise auf der Krim und die Umwälzungen in der Ukraine. Was als Freiheitskampf auf dem Maidan begann, ist längst zu einer Bewährungsprobe für Europa geworden. Droht nach dem Sturz Janukowitschs nun der Machtknüppel Russlands?
Die Veranstaltungsreihe "Tranzyt" soll Antworten jenseits der politischen Schlagzeilen liefern. Hier sitzen ukrainische und russische Schriftsteller gemeinsam auf Podien und versuchen, die jahrzehntelange Hassliebe zwischen ihren Ländern zu reflektieren, Worte zu finden für das, was jenseits der Nachrichtenbilder liegt, die täglich auf uns einprasseln.
Innenansicht der Revolution
Juri Andruchowytsch (Bild oben) ist einer von ihnen. Der 54-Jährige gehört zu den renommiertesten Autoren der Ukraine. Ein unbequemer, politischer Geist, der sich schon 1991 für die Unabhängigkeit der Ukraine engagierte und 2004 einer der intellektuellen Wortführer der "Orangenen Revolution" war. Für seine literarischen Reflexionen erhielt er 2006 den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung.
In den letzten Monaten protestierte er mit hunderttausend anderen Ukrainern auf dem Maidan. Mehr noch - erst durch ihn und andere mutige Schriftsteller bekam der Westen eine "Innensicht" der Revolution. Sie veröffentlichten offene Briefe auf Facebook über die Einschüchterungen durch die Polizei, twitterten von Gewalt und der korrupten Politelite. "Ich schreibe gerade mehr denn je" erklärt Juri Andruchowytsch. "Aber keine Romane, sondern Artikel und Kolumnen. Das ist jetzt notwendig, eine Art Dokumentation der Wahrheit."
Juri Andruchowytsch - Schreiben gegen Willkür
Dazu gehört für ihn auch, sich gegen den wachsenden "russischen Imperialismus" zu stemmen. Juri Andruchowytsch kennt das übergroße Nachbarland sehr gut. Er lebte einige Jahre in Moskau. 1993 prangerte er in seinem Roman "Moskoviada" schonungslos den russischen Kulturchauvinismus gegenüber den Emanzipationsbewegungen früherer Sowjetrepubliken an. Ein Roman, der heute seltsam aktuell erscheint. Mit satirischem Unterton wurde darin der russische Machthunger ad absurdum geführt:
"Wie sie aus unserer heroischen Geschichte wissen, ist die Deportation ein wunderbares Mittel gegen jedes nationale Problem. In dem wir die Idee von der großen Völkerwanderung unterstützen, werden wir das Entstehen ganz neuer, chimärischer Nationen und Völkerschaften befördern, mit so verdrehten Namen, dass sie sich ihrer selbst schämen werden: Rossijaken, Ukralier, Rumängolen, Niederbaidschaner…."
Andrij Ljubka - Orientierungslosigkeit als Sujet
"Moskoviada" ist längst ein Klassiker der osteuropäischen Gegenwartsliteratur. Auch Andrij Ljubka ist damit aufgewachsen. Der 26-Jährige gehört zu den Shootingstars der ukrainischen Lyrikszene. Zwei Monate hat er selbst auf dem Maidan ausgeharrt. "Ich glaube nicht, dass die Probleme zwischen Ost- und Westukrainern liegen", erklärt er. "Also zwischen jenen, die russisch sprechen und denen, die Ukrainisch als Muttersprache haben." Es sei vielmehr ein Kampf zwischen gestern und heute, zwischen mündigen Bürgern und machtgierigen Politfunktionären.
Andrij Ljubka gehört einer Generation von Ukrainern an, die zunehmend ihre kulturelle Identität in einer globalisierten Welt verortet. Viele von ihnen sind in den 90er Jahren groß geworden. Eine Zeit des Umbruchs nach dem Ende der Sowjetunion. Das Gefühl der Unsicherheit kennen sie nur allzu gut. Andrij Ljubka packt diese Orientierungslosigkeit in tranceartige Gedichte.
"Das Atmen nicht verlernen, nicht durchdrehen.
Durch die nächtlichen Städte ziehen wie verirrte Seelen, von einer
Leeren Straße in die nächste biegen – das ist wie alte Fotos
Anschauen, auf denen deine toten Freunde noch da sind,
Zigarettenstummel ins Wasser werfen, plötzlich frösteln, den Kopf heben und
Verstehen, dass du eigentlich nach unten schaust."
Tanja Maljartschuk - Geist des Zweifels
Dieser lähmende Schwebezustand ließ auch die Schriftstellerin Tanja Maljartschuk aufbegehren, und zwar aus der Ferne. Die 30-jährige Ukrainerin lebt seit einigen Jahren in Wien. Hier hielt sie zusammen mit anderen Landsleuten tagelang eine Mahnwache vor der ukrainischen Botschaft. "Denn Maidan ist weniger ein Ort und mehr ein innerlicher Zustand", meint sie. "Egal wo man lebt."
In ihren Büchern entwirft Tanja Maljartschuk das Porträt der ukrainischen Gesellschaft, die auf der Suche nach sich selbst ist. Was bleibt, wenn politische Vorzeichen sich abrupt ändern, aber das Bewusstsein der Menschen hinterherhinkt? "Biografie eines zufälligen Wunders", ihr Romandebüt, bietet humorvoll-bittere Antworten.
"In die jungfräulichen postkommunistischen Seelen hatte ein neues amerikanisches Wort mit voller Kraft Einzug gehalten: 'Business'. Allerdings erhielt es hier eine etwas andere Bedeutung: Wenn man dem Staat nichts mehr stehlen kann, muss man sich eben gegenseitig bestehlen."
Diesen Zynismus hat Tanja Maljartschuk inzwischen abgelegt. Sie hat gesehen, welche Wucht ein unzufriedenes Volk haben kann. "Doch es reicht nicht, eine Revolution zu machen und dann nach Hause zu gehen", sagt sie. Man müsse stets den Geist des Zweifels bewahren. Und wo könnte er mehr zuhause sein, als in der Literatur.