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Ukraine - "wie in einem Zombiefilm"

18. März 2022

Seit Wochen herrscht Krieg in Europa. Auch zahlreiche Athletinnen und Athleten sind in der Ukraine geblieben. Dieses Mal kämpfen sie nicht um Medaillen, sondern ums Überleben. Drei von ihnen erzählen ihre Geschichte.

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Die ukrainische Stadt Charkiw nach einem Artillerieangriff
Die ukrainische Stadt Charkiw nach einem ArtillerieangriffBild: Andrea Carrubba/AA/picture alliance

Kiew gleicht in diesen Tagen einer Geisterstadt. Bürgermeister Vitali Klitschko hat eine Ausgangssperre verhängt, die Sorge um weitere schwere Luftangriffe der russischen Armee ist groß. Lediglich Personen mit Sondergenehmigung dürften das Haus verlassen, heißt es. Eine solche Erlaubnis hat auch Sergiy Stakhovsky. Der 36-Jährige beendete im Januar offiziell seine Tennisprofi-Karriere, jetzt patrouilliert er täglich gemeinsam mit anderen Soldaten in Kiew. 

"Fühle mich schuldig"

Er ist gerade im Urlaub mit seiner Familie, als die russische Invasion am 24. Februar beginnt. "Es war nicht der beste Start in den Tag, als wir die Information bekamen, dass die Ukraine angegriffen wird", berichtet er im Interview mit der DW. "Ich habe sofort den Fernseher eingeschaltet und dann die Explosionen in Kiew, Charkiw und Mariupol gesehen. Das war nicht leicht, weil ich anfangs nicht verstanden habe, was gerade passiert."

Sergiy Stakhovsky posiert in Militär-Kleidung vor einer Statue in Kiew
Seit Kriegsbeginn patrouilliert Sergiy Stakhovsky in Kiew, seiner HeimatstadtBild: Sergei Supinsky/AFP

Nur wenige Tage später fliegt Stakhovsky zurück in seine Heimat, er wird eingezogen. Seitdem ist er von seiner Familie getrennt. "Ich fühle mich schuldig meinen Kindern und meiner Frau gegenüber, weil ich sie zurücklassen musste", sagt er und fügt an: "Ich habe mit meiner Frau nicht lange darüber gesprochen. Sie hat geweint. Hätten wir eingehender darüber gesprochen, wäre ich nicht gefahren. Ich hätte nicht den Mut gehabt, meine Familie zurückzulassen."

"No war in Ukraine"

In Zhytomir, rund 150 Kilometer westlich von Kiew, lebt Vladyslav Heraskevych. Der Skeleton-Fahrer war im Februar noch bei den Olympischen Winterspielen in Peking im Einsatz. Zwei Tage vor Kriegsausbruch sorgte der 23-Jährige dort für Aufsehen als er ein Schild mit der Aufschrift "No war in Ukraine" in die Fernsehkameras hielt.

"Ich habe es gemacht, um der Welt zu zeigen, dass wir Ukrainer friedliche Menschen sind und keinen Krieg wollen", erklärt Heraskevych im DW-Interview und ergänzt: "ich habe viele negative Kommentare aus Russland bekommen, auch von Politikern und anderen wichtigen Personen. Doch es gab auch viele positive Reaktionen vom Rest der Welt."

Wenige Tage nach seiner Rückkehr aus China wird er von einem Bombenalarm aus dem Schlaf gerissen. Seitdem ist auch der 23 Jahre alte Student mitten im Krieg. Darüber zu sprechen fällt Heraskevych nach wie vor nicht leicht. 

Vladyslav Heraskevych Skeletonfahrer aus Ukraine hält Schild in die Kamera mit der Aufschrift "No war in Ukraine"
Skeleton-Fahrer Vladyslav Heraskevych setzt bei den Olympischen Spielen in Peking ein Zeichen gegen den KriegBild: picture-alliance/AP

"Überall waren Explosionen zu hören", berichtet er. "Vor ein paar Wochen waren wir noch bei den Olympischen Spielen und haben um Medaillen für unser Land gekämpft. Kurze Zeit später sind wir im Krieg und alles, was du bisher in deiner Karriere erreicht hast, ist plötzlich egal. Denn jetzt geht es um unser Land." Gemeinsam mit anderen Sportlern schreibt er nach seiner Rückkehr Briefe an das IOC und setzt sich für die Suspendierung russischer Athletinnen und Athleten ein.

Heraskevych verbreitet "wahre Informationen"

Zudem unterstützt der 23-Jährige seit Kriegsbeginn Freiwillige bei ihrer Arbeit. Er sieht seine Aufgabe aber auch darin, den Menschen auf der ganzen Welt wahre Informationen zur Verfügung zu stellen. Dafür nutzt er seine Bekanntheit und seine Social-Media-Kanäle. "Ich habe viele Freunde in der ganzen Ukraine und sie schicken mir Videos und Fotos, die ich dann über meine Kanäle verteile. Es ist sehr wichtig, Informationen über unsere Situation hier zu verbreiten", sagt Heraskevych und betont: "Es sind wahre Informationen von den Ukrainerinnen und Ukrainern."

Die Videos und Fotos, die den Sportler erreichen und die er verbreitet, zeigen die Zerstörung der Ukraine: brennende Gebäude, fliehende Familien. Täglich steigen die Opferzahlen. "Die Gebäude und Straßen können wieder aufgebaut werden. Doch die Menschen, die sterben, kommen nicht zurück", sagt Heraskevych. "Kinder verlieren ihre Eltern oder Eltern ihre Kinder. Auch ich habe bereits einige Freunde verloren. Das tut sehr weh, es ist ein Albtraum."

Trotz allem versucht er positiv zu bleiben. "Wir werden unser Land wieder aufbauen. Wir werden stolz auf unser Land sein und versuchen, es in Zukunft wieder weiterzuentwickeln", sagt der 23-Jährige und hofft, "dass bald wieder viele Menschen die Ukraine besuchen können und sehen, wie schön es hier ist".

Kryvytska: "Werden unser Zuhause nicht mehr wiedersehen"

Noch weiter im Westen der Ukraine geht Olena Kryvytska gerade mit ihren beiden Hunden spazieren. Es ist ein Stück Normalität, das sie versucht, aufrecht zu erhalten. Denn viel ist von ihrem alten Leben nicht geblieben. Einen Tag nach ihrem Geburtstag am 23. Februar wurde ihr Wohnort angegriffen. "Wir haben in 15 Minuten das Nötigste zusammengepackt und sind mit unseren beiden Hunden ins Auto gestiegen, um an einen sicheren Ort zu fahren", erinnert sich die Degenfechterin. "Wir haben unser Haus, unser Zuhause verlassen und werden es wohl nie mehr wiedersehen."

Jeden Morgen werden sie und ihre Familie von den lauten Sirenen, die die Bevölkerung vor neuen Angriffen warnen, geweckt. "Das kann bis zu vier Stunden dauern", berichtet Kryvytska im Gespräch mit der DW. "Während dieser Zeit warten wir in einem Schutzraum und ich versuche, mich dann auf den neuesten Stand zu bringen. Denn es kann sich jederzeit etwas ändern."

Olena Krywyzka beim Interview mit der Deutschen Welle
Degenfechterin Olena Kryvytska im DW-InterviewBild: Thomas Klein

Sie telefoniert mit Freunden, erkundigt sich und hilft Menschen in ihrer Umgebung. "Ich versuche Unterkünfte für Familien zu finden, die ihre Wohnorte verlassen mussten. Manchmal kaufe ich Medizin, Essen oder andere wichtige Dinge und bringe sie zu Sammelstellen, wo Freiwillige sie weiter verteilen."

Die Ukraine ist ein großes Team

Kryvytska zählt zu den besten Degenfechterinnen der Welt, doch an Sport ist gerade nicht zu denken. "Ich werde bald zurück zum Fechten kommen, doch das ist momentan nicht das Wichtigste", sagt die 35-Jährige. "Meine internationalen Fechtfreunde unterstützen mich jeden Tag. Fechten gehört also nach wie vor zu meinem Leben dazu."

Kryvytska betont immer wieder, dass die Ukraine nun ein großes Team, eine große Familie sei. "Wir wollen den Feind bekämpfen, der in unser Zuhause gekommen ist, um es zu zerstören." Egal wie ausweglos die Situation auch sein mag, für Kryvytska ist klar: "Die Ukraine wird wie Phönix aus der Asche auferstehen. Wir sind sehr starke, freie und unabhängige Menschen, die ihr Land lieben. Wir werden niemals aufgeben."

Ein Zombiefilm, nur ohne Zombies

Aufgeben ist auch für den ehemaligen Tennisprofi Stakhovsky keine Option. Vor wenigen Monaten hatte er noch einen Tennisschläger in der Hand, jetzt patrouilliert er mit einem über die Schulter gehängten Maschinengewehr auf den Straßen seiner Heimatstadt Kiew. "Ich bin zwei Stunden auf Patrouille und dazwischen versuche ich den anderen Menschen in Kiew zu helfen und unterstütze sie dabei, humanitäre Hilfe zu verteilen."

Auf einer zerstörten Straße in Kiew liegen Trümmer
Apokalyptischer Anblick im Zentrum von KiewBild: Mohammad Javad Abjoushak/SOPA Images via ZUMA Press Wire/dpa/picture alliance

Stakhovsky ist in Kiew geboren, aufgewachsen und hat viele Freunde in der Stadt. Wenn er durch die Straßen geht, wird er immer wieder an seine friedliche Kindheit erinnert. "Es ist ein Desaster", beschreibt er die Situation. "Die Straßen sind leer und wenn du über die die Straßen läufst, auf denen du als kleines Kind gespielt hast und es sind überall Betonblöcke oder Checkpoints, dann fühlt es sich nicht real an. Es ist wie in einem Zombiefilm, nur ohne die Zombies".

Kiew wird nicht untergehen

Nach zehn Tagen habe er sich an diesen Zustand zwar gewöhnt, so Stakhovsky, doch an die Bomben, die auf Wohngebiete fallen und das Töten der Zivilbevölkerung - daran werde er sich nie gewöhnen. "Ich glaube nicht, dass die Russen Kiew einnehmen werden. Unsere ukrainischen Truppen werden den Gegner davon abhalten, da bin ich sicher", sagt er.

Es sei wichtig, dass bekannte Ukrainerinnen und Ukrainer zeigen, dass sie das Land nicht verlassen haben. "Die Nation steht zusammen. Doch noch viel wichtiger ist, dass wir zeigen, dass wir keine Nazis sind, wie Putin es behauptet. In der Ukraine gibt es Redefreiheit, jeder Mensch hat die freie Wahl, das zu tun, was er oder sie möchte", sagt Stakhovsky. "In Russland ist das nicht der Fall."