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ReiseUkraine

Ukraine: Was machen Touristiker in Kriegszeiten?

Natalia Vlasenko
16. Mai 2022

Und plötzlich war alles anders. Als Russland am 24. Februar die Ukraine angriff, war das das Ende für den Tourismus im Land. Hier fünf Berichte von Touristikern - ihre Erlebnisse, Ängste und Hoffnungen.

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Reiseleiterin Natalia Vlasenko (rechts) mit einem Kollegen aus Belgien
Reiseleiterin Natalia Vlasenko (rechts) mit einem Kollegen aus BelgienBild: Natalia Vlasenko

Natalia Vlasenko liebte es, Touristen aus der ganzen Welt ihre Stadt Odessa und Umgebung zu zeigen. Dann kam der Krieg und ihr Leben wurde auf den Kopf gestellt. Statt Touristen herumzuführen, hilft sie Flüchtlingen und übersetzt für ausländische Medien, die nach Odessa kommen. Nicht nur Natalias Leben hat sich komplett verändert, sondern auch das ihrer Kolleginnen und Kollegen in der ukrainischen Tourismusbranche. Sie erzählt uns ihre Geschichte und die von vier anderen Touristikern.

Keine Zeit für Reiseberichte

Natalia Vlasenko, Touristenführerin in Odessa:

"Ich hatte so viele Erwartungen und Pläne für das Jahr 2022, nachdem die Corona-Maßnahmen schrittweise zurückgenommen wurden. Ich habe früher mit vielen Besuchergruppen zusammengearbeitet, sie kamen aus Großbritannien, aus den USA, Deutschland, Frankreich, Polen, Belgien und den Niederlanden. Aus dieser Zeit habe ich so viele schöne Erinnerungen! Ich konnte das machen, was ich liebe - Touristen meine Stadt zeigen und sie mit Odessas Geschichte, Kultur und Küche vertraut machen.

Eine Touristengruppe aus Frankreich in den Katakomben von Odessa
Vor Kriegsausbruch führte Natalia Vlasenko internationale Gäste durch OdessaBild: Natalia Vlasenko

Aber als am 24. Februar der Krieg begann, fielen meine Pläne wie ein Kartenhaus zusammen. Ich kann keine Touren mehr machen und auch mein zweites Standbein ist weggebrochen - ich habe als Reisejournalistin für eine Online-Seite über Odessa geschrieben. Aber jetzt ist einfach nicht die Zeit für Reiseberichte.

Ich musste mich nach neuen Arbeitsmöglichkeiten umschauen, um meinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Im Moment bin ich als Übersetzerin und Assistentin für ausländische Medien tätig, die nach Odessa reisen, um von der aktuellen Situation zu berichten. Meine Sprachkenntnisse kommen mir dabei zugute - neben Ukrainisch kann ich Englisch, Französisch und Polnisch. Außerdem arbeite ich ehrenamtlich für das englischsprachige Nachrichten-Portal "We are Ukraine".

Natalia Vlasenko (links) und ein Soldat vor dem zerstörten Flugahfen in Mykolaiv
Statt Touristen zu Sehenswürdigkeiten zu führen, begleitet Natalia Vlasenko (links) Journalisten. Hier zeigt ein Soldat der Presse den zerstörten Flughafen in MykolaivBild: Natalia Vlasenko

Manche meiner Kolleginnen und Kollegen haben sich entschieden, in der Ukraine zu bleiben, andere wiederum sind vorübergehend ausgereist. Ich habe mit vier von ihnen gesprochen und ihre Geschichten übersetzt. Wir möchten mit unseren Erfahrungen einen Eindruck vermitteln, wie der Krieg in unserem Land alles verändert hat - auch in der Tourismusbranche."

Die wichtige Rolle der Tourismusbranche in Kriegszeiten

Ivan Liptuga, Präsident der nationalen Tourismusorganisation der Ukraine:

"Kurz vor dem russischen Einmarsch in der Ukraine, als die internationale Presse schon offen über einen möglichen Krieg spekulierte, glaubte die große Mehrheit der Menschen hier noch nicht an einen Krieg. In dieser Zeit erhielten wir viele Fragen von ausländischen Medien und beschlossen zusammen mit dem World Tourism Network (WTN) ein Zoom-Meeting zu organisieren. Es waren Reiseveranstalter und Hoteliers dabei, um unsere internationalen Partner zu beruhigen.

Drei Menschen lächeln in die Kamera auf der 26. Internationalen Fachmesse für Reisen und Touristik in Kiew
Ivan Liptuga (rechts) auf der 26. Internationalen Fachmesse für Reisen und Touristik in KiewBild: Ivan Liptuga

Dann, zwölf Tage später, veränderte sich alles - der Krieg begann. Wir riefen die Kampagne "Scream for Ukraine" ins Leben, um auf die schreckliche Situation aufmerksam zu machen. Reiseveranstalter, Hoteliers und Gastronomen haben von Beginn an das Militär unterstützt. Sie verpflegen die Truppen oder beherbergen Flüchtlinge und helfen ihnen weiterzureisen. 

All das zeigt, wie wichtig die Tourismusbranche ist - nicht nur in Friedenszeiten, um die Ukraine als Urlaubsziel zu vermarkten, sondern auch in Krisenzeiten, um zu helfen."

Eine orthodoxe Kirche in Kiew
In Kiew gibt es viele Sehenswürdigkeiten, aber wegen des Krieges gibt es keinen TourismusBild: Maria Yukhnovets

Touristen werden in die Ukraine zurückkommen

Julia Kulik, Gründerin und Geschäftsführerin des Reiseveranstalters JC Travel:

"Es ist klar, dass der Krieg das gesamte Tourismusgeschäft zerstört hat. Ende 2021 gab es einige Buchungen für 2022, wir rechneten sogar mit einem guten Jahr und waren froh, dass sich die Zahlen nach Corona wieder erholten. Aber schon Anfang des Jahres, als die Spannungen zwischen der Ukraine und Russland zunahmen, erhielten wir immer mehr Stornierungen. Und dann begann der Krieg, die Tourismusbranche brach mit einem Mal zusammen. Ich bin mit meiner Tochter in die Niederlande gegangen. Für mich und meinen Mann haben ihr Leben, ihre Gesundheit und ihre Zukunft absolut Priorität. Und ja, ich habe hier auch einen Job gefunden, ebenfalls im Tourismus.

Julia Kulik mit ihrer Tochter in den Niederlanden
Julia Kulik mit ihrer Tochter in den NiederlandenBild: (c) Julia Kulik

Wenn der Krieg vorbei ist und die Truppen abgezogen sind, wird sich der Tourismus in der Ukraine mit Sicherheit recht schnell erholen. Die Touristen werden zurückkehren, sobald es völlig sicher ist. Es werden neue, für Besucher interessante Orte hinzukommen, denn das Interesse an Städten wie Butscha, Irpin, Borodjanka und Mariupol wird mit Sicherheit steigen. Das einzige Problem ist: All das wird dauern. Im besten Fall ein Jahr, ich bin da sehr optimistisch."

"Ich hoffe, der Krieg ist bald zu Ende"

Anna Nikolaieva, Reiseleiterin:

"Lwiw (Lemberg) war bei Touristen die beliebteste Stadt der Ukraine. Im Jahr 2021 kamen 1,5 Millionen Gäste. Die Reiseleiter bereiteten sich auf die neue Frühjahrs- und Sommersaison 2022 vor. Ich selbst habe an einer Website gearbeitet und neue Routen rund um Lwiw während der Nebensaison entworfen. Aber der Krieg machte all meine Pläne zunichte. Ich habe deshalb die Ukraine verlassen und lebe jetzt in Warschau.

Anna Nikolajevas virtuelle Ukraine-Tour
Anna Nikolajevas virtuelle Ukraine-TourBild: Anna Nikolaieva

Als die Pandemie begann, habe ich auf Airbnb für ein Online-Erlebnis namens "Kulturelle Reise durch die Ukraine" geworben. Jetzt betreibe ich diese virtuelle Tour auf Zoom. Und seit Beginn des Krieges habe ich mit Google, Intel, LinkedIn, Pfizer, Airbnb, Pinterest, KPMG Canada, Amazon Studios, Salesforce und anderen auf der ganzen Welt über die Ukraine gesprochen. Den Menschen ist bewusst, dass sie wenig oder gar nichts über unser Land wissen, und ich kann ihnen helfen, mehr zu erfahren. Ich hoffe, dass der Krieg bald zu Ende ist und ich nach Lwiw zurückkehren kann."

Der Krieg legt die Wirtschaft lahm

Maria Yukhnovets, Reiseexpertin und Mitarbeiterin von Sputnik Kyiv DMC:

"Der internationale Tourismus hat schon immer sehr sensibel auf alle Arten von Weltereignissen reagiert - ob es sich nun um eine Pandemie oder eine politische Krise in einem beliebigen Zielland handelt. Im Januar 2022, als die Medien zunehmend über eine mögliche russische Invasion berichteten, beschlossen viele Regierungen, Reisewarnungen für die Ukraine herauszugeben. So sehr wir diese Entscheidungen auch verstanden und respektiert haben, so sehr haben wir auch erkannt, dass dies starke Auswirkungen auf die Tourismussaison 2022 haben wird.

Eine Frau mit zwei Einkaufswagen voller Hilfsgüter in Kiew
Maria Yukhnovets beim Sammeln und Verteilen von Hilfsgütern an Bedürftige in Kiew und in der RegionBild: Maria Yukhnovets

Die Wirtschaft des Landes, fast alle Industriezweige sind lahmgelegt worden. Es gibt keinen Tourismus mehr - weder im Inland noch aus dem Ausland - der Himmel ist für den Flugverkehr gesperrt, die Ukraine ist im Krieg.

Uns ist klar, dass der Tourismus einer der letzten Branchen in der Ukraine sein wird, die sich nach Kriegsende erholen wird. Die Infrastruktur muss wieder aufgebaut und Flüge angeboten werden. Und Touristen müssen wieder Vertrauen in unser Land fassen können - wir hoffen sehr, dass das 2023 möglich sein wird.

Im Moment versuchen wir, unserem Land zu helfen und engagieren uns freiwillig. Wir verteilen Lebensmittel, helfen Menschen, die ihr zuhause verloren haben, stehen Flüchtlingen bei, unterstützen die ukrainischen Soldaten und helfen bei Evakuierungen. Das ist der neue Alltag fast aller Ukrainer, so sieht auch mein Leben gerade aus.

Wir hoffen, dass sich die Ukraine nach diesen schweren Zeiten wie ein Phönix aus der Asche erheben wird. Und ja, wir sind sicher, dass nach diesem Krieg Millionen von Menschen nie wieder fragen werden: Ukraine? Wo ist dieses Land?"